Stephan Frühwirt – Gesellschaft und Kontingenz http://www.gesellschaftundkontingenz.de Beobachtung auf der Ebene dritter Ordnung Mon, 14 Mar 2016 19:59:31 +0000 de-DE hourly 1 Wikileaks: Enthüllungspotenziale einer Enthüllungsplattform http://www.gesellschaftundkontingenz.de/2011/03/05/wikileaks-enthuellungspotenziale-einer-enthuellungsplattform/ Sat, 05 Mar 2011 18:17:52 +0000 http://www.gesellschaftundkontingenz.de/?p=391 Der bisherige Normalverlauf der massenmedialen Themenkarriere der Enthüllungsplattform wikileaks.org kann als Bestätigung der zahlreichen, durch die Beobachtung des Systems der Massenmedien empirisch gewonnenen und theoretisch generalisierten Erfahrungen mit Karrieren nicht nachhaltig interessanter Themen aufgefasst werden: das System wurde durch die Veröffentlichungen irritiert, hat das Thema selektiert, entwickelt und schließlich durch ein anderes ersetzt. 1 Ein immer weiter abflauendes Interesse ist ein Zeichen dafür, dass es als Folge der Veröffentlichungen keine andauernde Irritation des politischen Systems gegeben hat. Das Ende des Themas Wikileaks ist deshalb auch ein Ende der Hoffnungen darauf und Ängste davor, dass sich auf Grund solcher Kommunikationsangebote nachhaltige gesellschaftspolitische Veränderungen vollziehen könnten.

Sowohl die Enttäuschung auf der Seite der Verfechter als auch die Erleichterung ihrer Widersacher über die fehlende sozialtransformatorische Wirkung haben, das sei hier gleich vorweg genommen, denselben Grund: Wikileaks und die sich an die politischen Zensurversuche anschließende Protestbewegung wurden in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den Journalismus, die Öffentlichkeit und auf Regierungssysteme unterschiedlicher Ausprägung bei weitem überschätzt. Und weil mit dieser Diagnose ein Mangel an medial gut zu verwertenden Ereignissen verbunden ist, hat sich die Aufmerksamkeit der Massenmedien – nachdem auch die Personalie des exzentrischen Hackers Julien Assange und organisationsinterne Konflikte abgehandelt worden waren – schließlich durch andere Neuigkeiten faszinieren lassen.

Macht und blindes Vertrauen

Ausgangspunkt der folgenden Analyse der Überschätzung von Wikileaks ist Selbstbeschreibung des Projektes: Auf der Seite derjenigen, die sich für die Plattform einsetzen oder ihr sympathisierend gegenüberstehen orientierte sich die Kommunikation an einem Argumentationsstrang, den Julian Assange selbst auf diversen Online-Plattformen bereits vor Inbetriebnahme von Wikileaks entwickelt hatte: es geht um die Verhinderung von Macht, die sich auf Geheimnisse und Kommunikationsverbote stützt. Es geht somit um die Störung autoritärer Strukturen, die wesentlich durch ebensolche Kommunikationsverbote gekennzeichnet sind, weil sie sich auf diese Weise das Vertrauen ihrer Untertanen sichern. 2

Seit je her ist die Beobachtung durch die Gemeinschaft das größte Problem der Autoritäten, denn das Vertrauen in ihre Entscheidungen ist eine Zumutung für die Regierten als Betroffene. Sie nehmen das Risiko der Unterwerfung unter die Entscheidung von anderen nur in Kauf, wenn sie davon ausgehen können, dass die Autoritäten Entscheidungen auf Grund ihres Spezialwissens, ihrer besonderen Fähigkeiten und meist auch auf Grund ihres Zugangs zur sakralen Welt im Sinne des Gemeinwohls treffen. Diese Forderung ist allerdings problematisch, denn die Autorität ist – wie ausgeprägt ihre besonderen Fähigkeiten auch immer sein mögen – stets mit der Gefahr konfrontiert, dass ihre Prognosen über zukünftige Gegenwarten nicht zutreffend sind. Die Entscheidungssituation der Autorität ist nämlich immer auch durch Informationsmangel gekennzeichnet, durch Komplexität, die sich nicht durch mehr Rationalität, also durch Hinzufügen von immer weiteren Entscheidungskriterien (Mittel und Zwecke) reduzieren lässt.3 Sie ergibt sich durch Einbeziehen der prinzipiell unkontrollierbaren Umwelt der Gesellschaft in die Situationsdefinition und lässt sich auch nicht dadurch auflösen, dass man sich Anweisungen von den Göttern geben lässt.
Ein Scheitern in kurzen Abständen ist in dieser Konstellation bereits impliziert und die die Frage ist dann, wie lange eine Autorität sich als solche behaupten kann, wenn ihre Fehler publik werden. Hieraus ergibt sich beinahe zwangsläufig die Tendenz, Probleme zu verschweigen oder zu lügen. Autoritäten machen mit hoher Wahrscheinlichkeit Fehler und aus diesem Grund suchen sie nach einer Möglichkeit, das Vertrauen uninformiert zu lassen, also blindes Vertrauen zu erzeugen. Jede Kontrolle des Vertrauens ist eine potenzielle Bedrohung für die Stabilität ihrer Herrschaft.

Diese Bedrohung der Autorität und die Aussicht, blindes Vertrauen zu erzeugen, waren in verschiedenen Gesellschaftsordnungen jeweils ganz unterschiedlich ausgeprägt und haben entsprechend unterschiedliche Lösungen bewirkt. In oralen Gesellschaften hatte die Autorität noch die Möglichkeit, eine ursprüngliche Beschreibung einer nun gegenwärtigen Gegenwart entsprechend zu modifizieren und den Vertrauensverlust auf diese Weise zu minimieren, wenn etwas anders gekommen war, als man es vorausgesagt hatte. Die Interpretation der göttlichen Zeichen konnte nachträglich an den Ausgang des Krieges, der Jagd, der Ernte angepasst werden und war durch diese Flexibilität nur selten unzutreffend. Mit Einführung der Schrift veränderte sich jedoch diese Situation: Auf Text basierte Kommunikation bleibt für iterierende Überprüfungen und damit für Vertrauenskontrolle verfügbar. Umso häufiger musste die Autorität, die ihre Kommunikation in schriftlicher Form verbreitet, nun auf Gewalt als letztes Mittel zur Durchsetzung des Kommunikationsverbots für kompromittierende Informationen zurückgreifen. Mit anderen Worten: wenn sich schon nicht vermeiden ließ, dass das Problem entdeckt wurde, musste wenigstens verhindert werden, dass es zur Publikation kam. Als unmittelbare Folge dieses Umstands lassen sich in stratifizierten Gesellschaften fast überall Formen der Radikalisierung der Kontrolle aller Untertanen und in schlimmeren Fällen eine erbarmungslosen Verfolgung von Abweichung, Kritik und Heterodoxie beobachten.4 In der Gutenberg-Galaxis entfällt schließlich die Möglichkeit des Erzwingens von Vertrauen durch physische Gewalt. Sobald sich der überwiegende Teil der Kommunikation massenmedial zunächst in Druckerzeugnissen und später elektronisch verbreiten lässt und sich damit nicht mehr in Interaktionssystemen, sondern unter Abwesenden vollziehen muss, verliert die Autorität ihre Kontrolle über die Informationslage der Gesellschaft. Nach einer intensiven und dennoch erfolglosen Phase der Zensur kommt es schließlich zu einer Dauereinrichtung von Kontrolle und Kritik und dadurch zu einer Auflösung des blinden Vertrauens in die Entscheidungen der Autoritäten.5

Kommunikation ist in der modernen Gesellschaft der Beobachtung und Beurteilung durch andere ausgesetzt und es ist diese Situation, aus der heraus sich die Umwälzungen der Aufklärung, Säkularisierung und Abwicklung der Stratifikation im Übergang zur Moderne ergeben hatten. Blindes Vertrauen wird im Zuge dieser Entwicklung durch Vertrauen in funktionale Systeme mit ihren symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und durch die, in ihnen sich entwickelnden funktionalen Autoritäten gesetzt. Eine Vertrauenskontrolle ist jetzt zwar mitunter deshalb schwer, weil das nötige Wissen dafür im Großen und Ganzen nur hauptberuflichen Wissenschaftlern, Politikern, Unternehmern und Rechtsgelehrten zur Verfügung steht – aber ganz prinzipiell kann jeder erwarten, dass Fehler im System bemerkt werden und wo nötig auch öffentlich zur Sprache kommen. Kommunikationsverbote sind damit nicht mehr nur schwer durchzusetzen – sie erzeugen vor allem Verdachtsmomente.6

Politik als Demokratie

Was die Ausdifferenzierung der Politik zu einem Funktionssystem betrifft, sieht sich die Gesellschaft in dieser Zeit des Übergangs mit einer Welle von Revolutionen konfrontiert, deren Ergebnis Machtausübung ist, für die der unscharfe Begriff des Gemeinwohls durch die Kontingenzformel Legitimation ersetzt wird. Die Erwartungen an politische Entscheidungen sind nun, dass sie einerseits grundsätzlich die Bedingungen ihrer Legitimation erfüllen und damit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit entsprechen, weil so die Unwahrscheinlichkeit der Akzeptanz von Politik in ausreichende Wahrscheinlichkeit transformiert wird. Dass andererseits aber im Notfall auch der Einsatz von physischer Gewalt als symbiotischem Mechanismus zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit möglich ist, wofür zwangsläufig sichergestellt sein muss, dass die konkreten Entscheidungen immer auch den Willen der Mehrheit der Wählerschaft repräsentieren oder wenigstens die Chance haben, eine Mehrheit zu erzeugen, wenn Fragen aufkommen.7

Und an dieser Stelle rastet die Funktion der politischen Öffentlichkeit ein: Durch die Veröffentlichung von relevanten Entscheidungen, durch die Berichterstattung über Verhandlungen, Diskussionen und fraktionsübergreifende Konflikte ermöglicht die politische Öffentlichkeit als Teil des Systems der Massenmedien die Vertrauenskontrolle der regierten Wähler im Hinblick auf die funktionalen Autoritäten des politischen Systems. Dies ist der Grund, weshalb Pressefreiheit in den Status unverzichtbarer Rechte erhoben wird und Einschränkungen nicht nur als persönliche Probleme von Journalisten oder als Schwierigkeiten von Verlagen verstanden werden, sondern als Angriffe auf die demokratische Ordnung selbst.8

Ihrer Selbstbeschreibung nach steht Wikileaks also in dieser pressefreiheitlichen Tradition der Beobachtung von Entscheidungen des politischen Systems, indem die Plattform bestimmte geheime Informationen öffentlich zugänglich macht und der Meinungsbildung der Wählerschaft zur Verfügung stellt. Das ist in dieser Hinsicht eine gewichtige Position, die derjenigen der klassischen Massenmedien durchaus entspricht.9 Aber eben nicht darüber hinaus geht. Mit anderen Worten: Whistleblowing auf Wikileaks ist von seiner Wirkung auf das politische System her nichts grundsätzlich anderes als Whistleblowing in der New York Times.10 Veröffentlicht wird in beiden Medien nur das, was an brisantem Material vorliegt, und das ist längst nicht alles, was im politischen System an potenziell Verwertbarem entsteht. Auf der politischen Bühne wird nur einmal kurz der Vorhang gelüftet, ein kurzer, unscharfer Blick gewährt und noch bevor das Raunen des Publikums über die Überraschung verflogen ist, wird das Bühnenbild umgebaut und für die nächste Überraschung vorbereitet.11 Etwas anderes ist gar nicht möglich und das ist für das Vertrauen in die politischen Autoritäten, wie wir gesehen haben, auch gut so. Eine genaue Punkt-für-Punkt-Übersetzung von Politik in massenmediale Information ist schon deshalb ausgeschlossen, weil wir es mit zwei Systemen mit je eigenen Grenzen zu tun haben, die geschlossen und deshalb basal divergent sind und die sich deshalb nicht mit einer letzten Erkenntnissicherheit erschließen können.12 Und dass auf diese Weise stets ein ausreichender Teil des Spektakels in den Hinterzimmern der Parlamente, in den für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Konferenzsälen und in den unzähligen Ausschüssen im Dunkeln bleibt, ist notwendig, weil es die Probleme der Entscheidung über zukünftige Gegenwarten auch und vor allem in der modernen Gesellschaft gibt und auch die funktionalen Autoritäten deshalb regelmäßig Fehler machen. Weil die Schuld trotzdem ihnen und nicht der Überkomplexität der Welt zugerechnet wird, tut es dem Vertrauen in sie gut, wenn nicht immer alles sofort auf den Tisch kommt.

Mit Wikileaks bricht also nicht etwa eine neue Zeit an, in der es keine politischen Geheimnisse mehr geben wird und die von den jüngsten Veröffentlichungen betroffenen Regierungen hätten entsprechend gelassener reagieren können, weil ihre Handlungsfähigkeit trotz vielleicht beschämender Einzelheiten nicht ernsthaft in Gefahr war.13 Julian Assange hat ganz offensichtlich gerade nicht den Status eines Super Empowered Individual wie etwa Felix Stadler meint.14 Weshalb, muss man also fragen, ließ sich dennoch eine so große Hysterie beobachten, auch und gerade in den Staaten der westlichen Welt? Aus welchem Grund meinte man Server abschalten, Propaganda-Kampagnen führen und sogar Auftragsmorde planen zu müssen? Weshalb nimmt man mit solchen Entscheidungen in Kauf, dass erzürnte Bürger harschen Protest kommunizieren? Wieso kommt zur Selbstüberschätzung der Anhänger von Wikileaks eine ebenso übertriebene durch die von ihr Betroffenen? Unsere Vermutung ist, dass sich die Beteiligten vor allem durch die Berichterstattung der Massenmedien dazu haben hinreißen lassen.

Vollumfängliche Themenverwertung

Niklas Luhmann beschreibt die Funktion des System der Massenmedien als Produktion universell relevanter Informationen und als Erzeugung einer, von allen erreichten Adressaten geteilten Vorstellung darüber was über die Welt, in er wir leben zu wissen ist, und woraus dementsprechend das kulturelle Gedächtnis zu bestehen hat. Das grundsätzliche Problem dieses Systems liegt darin, dass die Informationen, die es produziert hochgradig instabil sind, weil sie uninteressant werden, sobald sie das erste Mal konsumiert wurden. Als Folge entsteht im System ein unaufhörlicher Informationsmangel und deshalb werden Themen, wenn sie einmal entdeckt wurden, aus allen möglichen interessanten Perspektiven beleuchtet. Außerdem komm es aus diesem Grund häufig zu einem Strohfeuer-Effekt: ein Thema wird sehr schnell sehr intensiv bearbeitet und ebenso schnell wieder fallen gelassen.15

Wikileaks war bezogen auf dieses Problem ein wahrer Glücksfall für die Redaktionen. Die Vielfalt möglicher Perspektiven und ihr Verknüpfungspotenzial zum Zweck der Informationsgenerierung war enorm. Zunächst einmal war die Enthüllungsplattform allein deshalb schon interessant, weil sie von Anfang an in Konkurrenz zu den etablierten Massenmedien gestanden hatte. Mit zunehmender Brisanz des Materials, das angekündigt und auf der Seite veröffentlicht wurde, verschärfte sich diese Situation von selbst, und spätestens, als Julian Assange behauptete, durch Wikileaks entstünde eine neue Form des Journalismus, die er wissenschaftlich nannte, mussten die Massenmedien auf diese Irritation reagieren.16 Immerhin wäre es durchaus möglich, dass die alleinige Möglichkeit zur Veröffentlichung der Originalquellen, insbesondere wenn es sich dabei um eine enorme Anzahl an Dokumenten handelt, tatsächlich der entscheidende Vorteil eines Mitspielers sein könnte, weil so fortan Meldungen und die in ihnen aufgestellten Behauptungen für das Publikum überprüfbar wären. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass durch das neue Angebot keinerlei Gefahr drohte. Im Gegenteil, Wikileaks etablierte stattdessen sogar eine Form der Kooperation: zuletzt wurde Material vor der Veröffentlichung an ausgewählte Medienhäuser ausgehändigt und zu lesbaren Geschichten verdichtet. Diese Vorgehensweise scheint eine Reaktion auf ein quantitatives Problem zu sein: wer will und kann das alles lesen, wenn er es auch gestrafft haben kann?17 Und sie macht deutlich: das Vertrauen in die Arbeit der Redaktionen ist offenbar ungebrochen. Das Thema Wikileaks fungierte in diesem Zusammenhang wie ein Spiegel, in dem sich die Massenmedien selbst beobachten konnten, eine Gegebenheit, die dem Bedürfnis ihrer Reflexion gerade auch im Hinblick auf die Angst vor dem neuen Medium sehr zu Gute kam. Die Redaktionen konnten hineinschauen und sich von der kollektiven Stimme der Leserschaft mit den Worten Du bist die Relevanteste im ganzen Land! bestätigt fühlen.

Das zweite große Themenfeld, das Wikileaks eröffnet hatte, war die Neuauflage des Problems der Presse- bzw. der Meinungsfreiheit verbunden mit dem Selbstverständnis der Protestbewegung. Der Protest profitierte nämlich davon, dass die Zensurversuche gegen ein Kommunikationsangebot im Netz und damit gegen jenes Medium gerichtet waren und sind, das sich als jüngstes Verbreitungsmedium vor allem dadurch auszeichnet, dass es eine Irritation der Gesellschaft durch die Selektion von Mitteilung und Information aller Bewusstseinssysteme ermöglicht. Oder mit anderen Worten: jedes Bewusstsein kann sich durch die, im Zusammenhang mit Kommunikation notwendige Unterstellung zur Irritation der Gesellschaft motivieren.18 Oder nochmals vereinfacht: jeder kann an Kommunikation teilnehmen. Aktivitäten, die darauf abzielen, bestimmte Kommunikationen im Internet zu unterbinden, sind entsprechend nicht nur das Problem eines mutigen Journalisten, oder eines selbstbewussten Verlagshauses, also nicht nur pressefreiheitlich von Belang, sondern werden als Angriff auf die Meinungsfreiheit eines jeden einzelnen Nutzers verstanden.19

Und hieraus ergab sich gleichsam eine dritte Möglichkeit, die großen Geschichte Wikileaks zu erzählen: allen Protestbewegungen ist gemeinsam, dass sie umso größere Chancen auf Erfolg haben, je mehr Teilnehmer sie akquirieren können. Demonstranten und Sympathisanten kommt deshalb eine so bedeutsame Rolle zu, weil sich Protest immer gegen getroffene Entscheidungen richtet, immer eine Änderung bestehender Verhältnisse anstrebt und sich dazu auf eine möglichst überzeugend große Masse an Gleichgesinnten stützen können muss. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass sich erfolgreiche Politik stets nach dem Interesse der Mehrheit richtet und in Bezug auf genau dieses Größenverhältnis hängt die Zahl der Teilnehmer einer Protestbewegung mit ihren Erfolgschancen zusammen. Als autopoietisches System muss Protest seinen Fortbestand selbst, das heißt im Rückgriff auf eigene Strukturen sicherstellen und kann entsprechend nicht davon abhängig sein, dass Bewusstseinssysteme in seiner Umwelt auf Grund von bestimmten psychischen oder sozialen Voraussetzungen aktiviert werden. Betroffenheit ist also keine zwingende Voraussetzung für Protest.20 Protest konkretisiert und definiert sich stattdessen über ein Protestthema, das Fragen, die es berührt mit der Unterscheidung Sympathisanten/Gegner unterscheidbar macht und durch diesen Antagonismus Engagement zu aktivieren versucht.21 Obschon jedoch Betroffenheit keine hinreichende Voraussetzung für die Teilnahme an einer sozialen Bewegung ist, ist es sicher dennoch leicht vorstellbar, dass eine psychologische Motivation auf Grund von Betroffenheit, Angst oder Ärger durchaus günstige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere des Systems sind.22 In diesem Sinne lässt sich beobachten, dass im Fall von Wikileaks eine besonders generalisierbare Unterstellung einer solchen psychologischen Motivation möglich ist. Hierin sehen wir einen wichtigen Grund weshalb sich der Protest so rasch zu einem Massenphänomen entwickelt hat.

Abgesehen von dieser Diagnose, die von einer empirischen Untersuchung gestützt werden müsste, darf man einen anderen wesentlichen Grund für den Blitzerfolg des Protestes nicht zuletzt darin vermuten, dass das Medium Internet über seine Funktion als Motivationskatalysator hinaus vor allem auch die Organisation der sozialen Bewegung selbst stark vereinfachte. In der Gutenberg-Galaxis war Protest immer von Interaktion vor Ort abhängig, weil nur so klar wurde, wie viele Gleichgesinnte zu mobilisieren man im Stande war. Die Teilnahmebestätigung war mit physischer Präsenz verbunden und allein schon deshalb mühsam und gefährlich. Andererseits war zur Verbindung von örtlichen Interaktionen und zur Ausschöpfung des gesamten Sympathiepotenzials von Seiten derjenigen, die politisch eher desinteressiert sind, eine Berichterstattung durch die Massenmedien notwendig. Beide Voraussetzungen entfallen mit dem Verbreitungsmedium Internet, da über die Kommunikation im Internet sowohl die Klärung der Teilnehmerzahlen als auch die Abstimmung ausgreifender Aktionen (ob nun off- oder online) sehr effizient möglich sind. Der Ausdruck eigener Interessen ist nun nicht mehr von einer synchronisierten Präsenz träger, frierender und schmerzempfindlicher Körper abhängig, die sich entweder vermummen können und damit bereits gegen geltendes Recht verstoßen oder offenbaren müssen, wer für spätere juristische Verfahren als Adressat zur Verfügung steht. Protest, der für Kommunikationszwecke auf das Internet zugreifen kann, hat es deshalb entschieden leichter und kann dementsprechend beschleunigt wachsen. Quantität ist an sich schon Generierung von Information für die Massenmedien. Wenn auch in der zeitlichen Dimension ein hohes Tempo vorgelegt wird, haben die Massenmedien umso relevanteren Stoff: Breaking News.23

Man kann anhand dieser Themenbeschreibung zu dem Schluss kommen, dass die Massenmedien ganz offensichtlich das einzige beteiligte System waren, die das Potenzial der Plattform systemintern, das heißt im Sinne ihrer eigenen Beobachtungsweise und Rationalität, nicht überschätzt haben. Das ist nicht weiter verwunderlich, immerhin ist dieses Funktionssystem nicht an politischen Fragen, sondern an Auflagenhöhen und Einschaltquoten interessiert und darum auch im Umgang mit hitzigen Themen vollklimatisiert. Überschätzt wurde Wikileaks dagegen von allen anderen und der unaufgeregte Beobachter war für diesen tragische Umstand verantwortlich. Und die Überschätzung war
folgenschwer: einerseits für die Politik, weil sie sich in diesem Zustand selbst zu einer Überreaktion zwang. Andererseits, wie wir abschließend zeigen wollen, aber vor allem für die Protestbewegung selbst, weil sie sich durch die Dramaturgie hat fesseln lassen und deshalb die tatsächlichen Enthüllungspotenziale von Wikileaks nicht reflektieren konnte. Und dass, obwohl eine solche Reflexion durch die besondere Verknüpfung von Inhalt und Organisation im Thema Wikileaks durchaus wahrscheinlich gewesen ist.

Enthüllungspotenziale einer Enthüllungsplattform

Wir haben die Beschreibung von Protestbewegungen als soziale Systeme im Sinne Luhmanns bereits weiter oben angedeutet. Wenn wir sie nun noch etwas klarer konturieren, lässt sich gut beobachten, worin die Schwierigkeiten von Protestbewegungen generell und im Fall von Wikileaks im Besonderen liegen, und wieso sie dazu geführt haben, dass das tatsächliche Potenzial der Plattform und des Protests nicht aktualisiert wurde.

Es ist für eine weitergehende Analyse zweckmäßig, noch einmal am Protestthema als unverzichtbarer Voraussetzung für die systeminterne Unterscheidung Sympathisant/Gegner anzusetzen. Das Thema bestimmt, wogegen oder wofür man sich einstellt und ist jeweils so konkret, dass es eine bestimmte Problemstellung klar definiert, also immer nur ausgewählte Zustände kritisiert. Die Bindung der Protestbewegung an eine eng umgrenzte Problemlage ist unvermeidlich, vor allem deshalb, weil Protest argumentative Letztbegründungen nur mit Hinweis auf Moral und somit Werte erreichen könnte. Wir wissen aber, dass Werte keineswegs in eine intransitive Ordnung gebracht werden und deshalb nicht auf der Programmebene zur Bildung eines Funktionssystems dienen können. Welcher Wert aktiviert wird, hängt jeweils von konkreten Situationen und ihren Beobachtern ab.24 Damit kann Protest nicht einfach auf verschiedene Problemlagen mit denselben Begründungen reagieren und so muss sich für jeden Einzelfall eine neue Bewegung mit einem neuen Thema und einer ihr angemessenen moralischen und wert-gestützten Argumentation entwickeln. Hieraus wird deutlich, wieso sich soziale Bewegungen also nicht mit einem (symbolisch) generalisierten Kommunikationsmedium und situationsübergreifenden Programmen zur Entscheidung auf der Ebene der Beobachtung 2. Ordnung versorgen können; weshalb sie ihre Unterscheidung Sympathisant/Gegner nicht generalisieren können; weshalb man nicht von einer Protestbewegung mit zur gleichen Zeit verschiedenen oder nacheinander wechselnden Protestthemen sprechen kann. Protest ist immer konkret und es „fehlt […] die Reflexion-in-sich, die für die Codes der Funktionssysteme typisch ist; und das wird zusammenhängen mit dem unstillbaren Motivationsbedarf der Protestbewegungen […].“25 Denn Reflexion ist kompliziert und generalisierte Bedingungen würden von den Teilnehmern verlangen, dass sie immer protestierten, wenn die generalisierten Bedingungen erfüllt wären. Aber das würde die Teilnahmepotenziale von vornherein zu stark einschränken. Man muss es also bleiben lassen, aber genau deswegen ist im Gegenzug mit einer Entwicklung des Themas nur in seltenen Fällen zu rechnen.

Ein weiteres Merkmal von sozialen Bewegungen ist, dass die jeweilige Problemstellung fremdreferenziell auf Systeme zugerechnet wird, denen man Entscheidungen (und dazu gehört auch: Tatenlosigkeit als Entscheidung zum Nicht-Handeln), also Komplexitätsreduktion unterstellen kann, die auch anders hätte vorgenommen werden können. Einfacher ausgedrückt: „Das Schicksal der Gesellschaft – das sind die anderen“26 und zwar unabhängig davon, ob die Gründe für ihre Schuld in ihrer Inkompetenz, ihrer Korrumpierbarkeit, ihrer Bösartigkeit oder in ihrer Naivität liegen. Wie auch immer die aktuelle Situation beobachtet wird, etwas muss sich ändern und weil die Protestbewegung Recht hat und alle andere Unrecht, muss es neue Entscheidungen geben, die sich an den Forderungen des Protestes orientieren.27 Dabei achtet man auch in Bezug auf die Kritik am Gegner darauf, dass es sich bei den Beschreibungen der Bewegung „um individuell aneignungsfähiges Wissen […] handelt, und damit ist Tiefenschärfe ausgeschlossen. Von Protestbewegungen ist nicht zu erwarten, daß sie begreifen, weshalb etwas so ist, wie es ist; und auch nicht, daß sie sich klar machen können, was die Folgen sein werden, wenn die Gesellschaft dem Protest nachgibt.“28 Protest vollzieht sich somit ebenso unreflektiert was die Selbstbeschreibungen der Schuldigen betrifft, indem er deren Gründe und Situationsdefinitionen weitestgehend vollständig ignoriert. Auch diesbezüglich wäre eine zu komplexe Beobachtung der Situation schädlich für die Rekrutierung von immer weiteren Teilnehmern. „Man kann von Protestbewegungen also keine Reflexion zweiter Stufe, keine Reflexion der Reflexion der Funktionssysteme erwarten. Sie halten sich statt dessen an die Form des Protestes.“29

Dieser Mangel an Reflexionspotenzial ist der Grund dafür, weshalb sich Protest höchst selten gegen die bestehende politische Ordnung als solche richtet (indem er etwa den Willen entwickelt, die Legitimationsbedingungen für kollektiv bindende Entscheidungen, also die Programme des politischen Systems zu verändern).30 Er attackiert lediglich die getroffenen Entscheidungen. Zwar stellt Protest in Aussicht dass er, wenn es sein muss, auch drastischere Mittel anzuwenden bereit ist, als dies Reformbewegungen tun, aber sein Ziel ist kaum jemals die Revolution im eigentlichen Wortsinn.31 Das schließt Revolution zwar nicht vollständig aus: Protest kann in Revolution münden, wenn er, entgegen seiner Systemrationalität komplexe Beobachtungen anstellt.32 Aber es muss, so darf man vermuten, gute Gründe für die Akzeptanz eines solchen Risikos geben. Und man darf sicher zu Recht davon ausgehen, dass Zweifel an den eigenen Erfolgschancen mit zu den wichtigsten unter ihnen zählen.

Und eben diese Zweifel am eigenen Erfolg hat die überzeichnete Berichterstattung der Massenmedien im Fall Wikileaks – zum Pech aller Sympathisanten und zum Glück für alle Gegner – von Anfang an zerstreut. Das Protestthema trägt, das lässt sich im Anschluss an die vorangegangenen Analysen konstatieren, durchaus ein nicht zu unterschätzendes revolutionäres Potenzial in sich. Es fällt nämlich auf, dass der Protest im Zusammenhang mit Wikileaks inhaltlich und organisatorisch ähnlich fokussiert war: im Mittelpunkt stand das Internet mit seinen Teilnahmemöglichkeiten potenziell unendlich vieler Bewusstseinssysteme an Kommunikation. Mit anderen Worten: im Fall der Enthüllungsplattform Wikileaks und dem Protest gegen die Zensurversuche der Politik sind die inhaltliche und die organisatorische Ebene derartig auf einander bezogen, dass sich Reflexion über das Thema und Reflexion über die Reflexion der Funktionssysteme fast hätte aufdrängen müssen. Man hätte dann sehr leicht sehen können, dass die Teilnahmemöglichkeiten an Kommunikation, die durch das Internet gegeben sind, nicht nur Organisations- und Plausibilisierungspotenziale des Protests vergrößern, sondern stattdessen auch ein Versuchsfeld für alternative Entscheidungsfindungsprozesse mit alternativen Legitimationsbedingungen darstellen: Warum es nicht einfach selbst in die Hand nehmen? Anstatt die funktionalen Autoritäten des politischen Systems dazu aufzufordern, die Meinungs- und Pressefreiheit zu achten und getroffene Entscheidungen zu revidieren, anstatt sich also ausschließlich auf das Was auf der Ebene 1. Ordnung einzuschränken, wäre es durchaus denkbar, demokratische Prozesse online zu verwirklichen und selbsttätig kollektiv bindende Entscheidungen herbeizuführen. Es ist diese, abseits der Bühne der medialen Themenverwertung zu findende Erkenntnis vollkommen neuartiger Deliberationsmöglichkeiten auf der Ebene 2. Ordnung, also nicht nur inhaltlicher Art, sondern auf Programmebene, durch die Umgestaltung politischer Legitimationsbedingungen, die das tatsächliche Enthüllungspotenzial der Enthüllungsplattform bildet.33 Aber für eine solche Enthüllung der Enthüllung wären etwas mehr Bescheidenheit und ein vorsichtigerer Umgang mit leicht zu formulierender Kritik auf Seiten der Sympathisanten notwendig gewesen. Vielleicht hätte man weniger das Pathos der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von John Perry Barlow, die wie ein religiöser Text unter Gläubigen plötzlich überall Verbreitung fand, reproduzieren sollen: “Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather.”34 Vielleicht hätte man sich stattdessen mehr auf die in dieser Beobachtung enthaltene Handlungsaufforderung konzentrieren müssen. Solch eine Situation erlaubt es nämlich gar nicht mehr, überhaupt noch normative Forderungen an die Politik zu stellen. Wenn man den Cyberspace tatsächlich zum Terrain erklärt, auf dem die traditionellen demokratischen Legitimationsbedingungen in Frage gestellt sind, wird die Suche nach Alternativen notwendig. Über diese Konsequenz war sich Barlow im klaren, als er formulierte: „We are forming our own Social Contract. This governance will arise according to the conditions of our world, not yours. Our world is different.“35

Es muss noch darauf hingewiesen werden, dass die hier unterbreiteten Beobachtungsvorschläge nicht normativ, sondern analytisch verstanden werden sollen. Es geht mit anderen Worten nicht darum für oder gegen eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung zu optieren. Ob der Take off im politischen System vollzogen wird und werden sollte, bleibt hier zwangsläufig unentschieden, auch dann, wenn man für die Zukunft mit einer wachsenden Zahl solcher Plattformen und dann auch mit immer schärferen Konflikten wegen immer zahlreicheren Veröffentlichungen wird rechnen müssen.36 Sofern die Beschreibung der Funktion von Protestbewegungen von Niklas Luhmann zutrifft: dass sie die Gesellschaft mit intern, da kommunikativ erzeugter Realität versorgen , und wenn sich die Kommunikationsbedingungen mit der Einführung des Verbreitungsmediums Internet tatsächlich so grundlegend verändert haben, dass es zur katastrophalen Zunahme von Überschusssinn kommt , darf man es jedoch für durchaus wahrscheinlich halten, dass dem beschriebenen Spezialfall und ähnlichen Protestbewegungen in Bezug auf die unvermeidlichen evolutionären Veränderungen des politischen Systems eine auslösende und beschleunigende Rolle zufällt. Immer vorausgesetzt – wie wir jetzt sagen müssen – es gelingt ihnen, ihre reine Angriffslust zu zügeln und jegliche Selbstüberschätzung zu vermeiden.

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  1. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
  2. Vgl. dazu die Zusammenstellung relevanter Zitate in Hofmann, Niklas: Der Gegenverschwörer. In: Wikileaks und die Folgen. Berlin: Suhrkamp 2011. S.47-54.
  3. Vgl. Luhmann, Niklas: Zur Komplexität von Entscheidungssituationen. In: Soziale Systeme 15 (2009) H.1. S.3-35.
  4. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.
  5. Vgl. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg, München: Karl Alber 1959.
  6. Vgl. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2000.
  7. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Hrsg. von André Kieserling. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.
  8. In Erinnerung an die Phantomdebatte, die Habermas und Luhmann geführt haben, vgl. Bolz, Norbert: Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Eine Phantomdebatte. In: Luhmann Lektüren. Hrsg. von Dirk Baecker, Norbert Bolz und Peter Fuchs: Kadmos, Berlin 2010. S.34-52., muss an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen werden, dass die politische Öffentlichkeit in dieser Funktion jedoch keine Macht ausübt.
  9. Und nicht etwa einem populistischen Ausnutzen der „Unzufriedenheit mit der etablierten Politik.“ wie Geert Lovink und Patrice Riemens meinen. Lovink, Geert und Patrice Riemens: Zwölf Thesen zu Wikileaks. In: Wikileaks und die Folgen. Berlin: Suhrkamp 2011. S.84-95. S.86.
  10. Vgl. dazu die Hinweise auf die Analogien bei Darnstädt, Thomas: Verrat als Bürgerpflicht. Bedrohlicher als Wikileaks ist die Jagd auf Wikileaks. In: Spiegel (2010) H.50. S.98f. und Borchers, Detlef: Die Wurzeln von Wikileaks. In: Wikileaks und die Folgen. Berlin: Suhrkamp 2011. S.55-66.
  11. Vgl. Baecker, Dirk: Falscher Alarm. In: Wikileaks und die Folgen. Berlin: Suhrkamp 2011. S.224-233.
  12. Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987.
  13. Aufgeregt beobachtet z.B. auch Lanier, Jaron: Nur Maschinen brauchen keine Geheimnisse. In: Wikileaks und die Folgen. Berlin: Suhrkamp 2011. S.69-83., der die völlige Offenlegung aller Geheimnisse als eine Auflösung des Bedürfnisses nach Vertrauen prophezeit, die Erklärung dafür, weshalb Vertrauen gerade und ausschließlich an Geheimnisse gebunden sein soll, jedoch schuldig bleibt. Informationsmangel als Auslöser für ein Bedürfnis nach Vertrauen ist durchaus auch ohne Geheimhaltung gegeben, wie oben im Zusammenhang mit einer prinzipiell unbekannten Zukunft angedeutet wurde. Vgl. dazu erneut Luhmann, N.: Vertrauen.
  14. Vgl. Stadler, Felix: Wikileaks und die neue Ökologie der Nachrichtenmedien. In: Wikileaks und die Folgen. Berlin: Suhrkamp 2011. S.96-108. Diese Überschätzung wird der Person Julian Assange noch weniger gerecht, wenn man bedenkt, dass sich sein Kommunikationsangebot im Internet gerade erst gegen andere Informationsangebote (und zukünftig auch gegen andere Enthüllungsplattformen) durchsetzen muss. Wir kommen darauf zurück.
  15. Vgl. Luhmann, N.: Die Realität der Massenmedien. Wer das als Kritik der Massenmedien falsch versteht, sieht vermutlich das Problem nicht, das sehr schnell entsteht, wenn Bekanntes wiederholt wird: Langeweile.
  16. Natürlich läuft dabei die Frage der Verlässlichkeit der Konkurrenz von Beginn an mit. Vgl. Lischka, Konrad: Schweizer Bank bekämpft Enthüllungs-Wiki. In: Spiegel Online (19.02.2008).
    URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,536293,00.html (04.03.2011). und Funk, Viktor: Immer Ärger mit Wikileaks. BND-Chef droht einer Internetplattform, die Dokumente veröffentlicht. In: Frankfurter Rundschau (24.12.2008).
    URL: http://www.fr-online.de/politik/immer-aerger-mit-wikileaks/-/1472596/3431306/-/index.html (04.03.2011).
  17. Im Übrigen kann das Argument, dass die News nun anhand der ihnen zugrundeliegenden Quellen auf „Wahrheit“ überprüft werden könnten, nicht vollkommen überzeugen. Immerhin könnten die Quellen ebenso gefälscht sein, wie die Geschichten von Journalisten. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit bis wir es mit einem Fall von geleakten Hitler-Tagebüchern zu tun bekommen werden.
  18. Vgl. Weichert, Ulrike, Coffin, Arthur, Dietrich, Jan Florian und Stephan Frühwirt: Die Unterstellung der Kommunikation. Ignoranz des Bewusstseins und gesellschaftliche Evolution. In: Gesellschaft und Kontingenz (01.04.2010).
    URL: http://www.gesellschaftundkontingenz.de/wp-content/uploads/2010/04/Die-Unterstellung-der-Kommunikation.pdf (04.03.2011).
  19. Vgl. dazu beispielsweise den Bericht: Hacker nehmen Rache für Wikileaks. In: Zeit Online (08.12.2010).
    URL: http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-12/wikileaks-mastercard-netzattacken?page=all (04.03.2011).
  20. Vgl. Luhmann, Niklas: Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview. In: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. S.175-200. S.182.
  21. Vgl. Ebd.: S.177f.
  22. Allein weil so besser sehen kann, wer in Frage kommt, wenn man Mitglieder wirbt! Vgl. Ebd. S.182.
  23. Vgl. Jiménez, Camilo: Feuer! Feuer! Feuer! Wikileaks und der „Cyberkrieg“. In: Sueddeutsche.de (14.12.2010).
    URL: http://www.sueddeutsche.de/digital/wikileaks-und-der-cyberkrieg-feuer-feuer-feuer-1.1035846 (04.03.2011.) oder Kremp, Matthias: Web-Aktivisten bringen Wikileaks in Sicherheit. In: Spiegel Online (05.12.2010).
    URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,732973,00.html (04.03.2010).
  24. Vgl. Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? In: Die Moral der Gesellschaft. Hrsg. von Detlef Horster. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. S.228-252.
  25. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999 (2Bd.). S.855.
  26. Ebd. S.848.
  27. Daraus ergibt sich übrigens für Protestbewegungen die tragische Situation, dass sie letztlich irgendwann zu Ende gehen müssen, weil sie im einen Fall wegen Erfolglosigkeit unattraktiv werden und im anderen der Erfolg nicht ihnen, sondern den adressierten Entscheidungsorganen zuge-rechnet wird. Vgl. Ebd. S.858.
  28. Ebd. S.857.
  29. Ebd. S.855
  30. Dazu wäre ja eine Beobachtung auf der Ebene 2. Ordnung notwendig!
  31. Vgl. Ebd. S.853
  32. Das ist beispielsweise auch der Grund für die Befürchtung, aus den gegenwärtigen Protesten in einigen arabischen Ländern, könnte sich möglicherweise eine islamistische Revolution entwickeln. Vgl. für Ägypten: Steinvorth, Daniel: Wir sind überall. Ägyptens Muslimbruderschaft. In: Spiegel Online (31.01.2011).
    URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,742774,00.html (03.04.2011).
  33. So weh es möglicherweise nach dem Ende des großen Habermas-Projekt noch immer tun mag: selbstverständlich ohne Anspruch auf Konsens oder gar Vernunft!
  34. Barlow, John Perry: A Declaration of Independence of Cyberspace. (09.02.1996).
    URL: http://w2.eff.org/Censorship/Internet_censorship_bills/barlow_0296.declaration (04.03.2011).
  35. Ebd. In anderen Funktionssystemen haben sich solche Alternativen bereits etabliert. Wikipedia.org ist nur ein Beispiel unter vielen anderen. Vergleiche neben der Blogosphäre zum Beispiel auch digg.com. Der Grund für zu Recht gehegte Vorbehalte im Zusammenhang mit Politik liegt sicherlich im symbiotischen Mechanismus Gewalt und den Erfahrungen, die die Gesellschaft beim Übergang in die Moderne mit großflächig ausbrechenden Konflikten machen musste.
  36. Möglicherweise werden die mittlerweile sich entwickelnden politischen Online-Beteiligungsmöglichkeiten die mit dem Internet entstandenen Potenziale auf der Ebene 2. Ordnung viel eher zu Tage fördern. Vgl. zum Beispiel die Dokumentation des sich derzeit in der Entwicklung befindlichen Projektes des Vereins Liquid Democracy e.V.
    URL: http://wiki.liqd.net/Main_Page (04.03.2011).
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Tragische Entscheidungen http://www.gesellschaftundkontingenz.de/2010/09/18/tragische-entscheidungen/ Sat, 18 Sep 2010 17:15:33 +0000 http://www.gesellschaftundkontingenz.de/?p=299 „According to the U.S. Army, one Iraqi prisoner was told to stand on a box with his head covered, wires attached to his hands. He was told that if he fell off the box, he would be electrocuted. […] In some [pictures], the male prisoners are positioned to simulate sex with each other. And in most of the pictures, the Americans are laughing, posing, pointing, or giving the camera a thumbs-up.“1

Mit diesen Worten wurden am 28.04.2004 in der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News jene Bilder kommentiert, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghuraib, einem Militärgefängnis unter US-amerikanischer Führung im Irak, dokumentieren und den Beginn einer, weltweite Aufmerksamkeit erregenden Serie von Enthüllungen zahlreicher weiterer Vorfälle dieser Art u.a. auch im US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba markieren.2 Was die Entrüstung der Öffentlichkeit im Anschluss an die Berichte der darauffolgenden Wochen und Monate gipfeln ließ, war eine offensichtlich sowohl ­moralische als auch rechtliche Widersprüchlichkeit, die sich aus dem Kontext der Vorfälle ergab und die der frühere Marine-Oberst Bill Cowan noch in der Sendung am 28.04.2004 wie folgt formulierte:

„We went into Iraq to stop things like this from happening, and indeed, here they are happening under our tutelage […].“3

Das Problem, das in seiner Bedeutung über die schon als solche schwer erträglichen Gewaltakte selbst hinausging, lag darin, dass man etwas getan hatte, das gerade das, was man getan hatte, beenden sollte, oder, anders formuliert: dass an gerade dem Ort Folterungen stattgefunden hatten, dessen Chronik der Folter4 als einer der Gründe angegeben worden war, welche die Notwendigkeit einer, zuvor scharf kritisierten militärischen Intervention hatten legitimieren sollen.
Wie hatte es dazu kommen können? Abgesehen von möglichen Motiven der reinen Befriedigung von Gewaltphantasien einzelner Militärangehöriger, die an der konkreten Ausführung der Maßnahmen beteiligt waren und daraus sich ergebenden Verdachtsmomenten hinsichtlich einer potenziellen Unaufrichtigkeit von Verantwortlichen, und abgesehen auch von Spekulationen über die Frage, inwiefern die humanistischen Ziele für die militärische Intervention überhaupt primärer Natur gewesen waren, lautete die offizielle Erklärung, dass man durch die getroffenen Maßnahmen Informationen erzwingen wollte, mit Hilfe derer neuerliche Anschläge hätten vermieden werden sollen.5 Man hatte also die Sicherheit der Bevölkerung und die Menschenwürde der Gefangenen gegeneinander abgewogen und war zu dem Entschluss gekommen, dass zu viele Menschenleben (einschließlich die der US-amerikanischen Soldaten) auf dem Spiel stünden, als dass auf Praktiken verzichtet werden könnte, die gegen die Genfer Menschenrechtskonvention verstoßen würden. Falls diese Erklärung zutrifft, dann wäre der bewusste Verzicht auf solche Informationen6 angesichts fortdauernder Terroranschläge im Irak und in Afghanistan genauso falsch gewesen, wie es die Missachtung der Genfer Menschenrechtskonvention schließlich war. Die geschilderte Situation entspricht einem Entscheidungsproblem, das Niklas Luhman in dem Aufsatz Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? als Tragic Choice7 bezeichnet: gemeint sind Entscheidungen, die nicht richtig getroffen werden können und darum falsch sind, wenn man sie trifft.

Die US-amerikanische Regierung hatte unter dem Druck der Ereignisse, den Jack Goldsmith, der von Oktober 2003 bis Juli 2004 United States Assistant Attorney General im Office of Legal Counsel im US-Justizministerium war, so beschreibt:

„Everyone in the administration with access to highly classified intelligence in threats to the homeland was scared of another deadly attack, and of not knowing how to prevent it. This fear […] of not doing enough to stop the next attack, and an equally present fear of doing too much and ending up before a court or grand jury – lie behind the Bush administration’s controversial legal policy decisions about the Terrorist Surveillance Program, the Geneva Conventions, military commissions, interrogation techniques, Guantanamo Bay, and more“8,

unter diesem Druck hatte sie alles falsch gemacht, weil es nur falsch gemacht hatte werden können. Wenngleich also die moralische Empörung über den Einsatz von Folter als gesellschaftsweiter Konsens beobachtet werden konnte, weil die Öffentlichkeit Grund zu einer moralischen Verurteilung hatte, unabhängig davon, ob die Verdachtsmomente hinsichtlich der Aufrichtigkeit der offiziellen Begründungen gerechtfertigt waren oder nicht, wenngleich man also den Eindruck hatte, dass der Umgang mit der Angelegenheit nur so und nicht anders möglich war, konnte das dahinter liegende Problem offenbar keineswegs so eindeutig entschieden werden. Zumal in rechtlicher Hinsicht.

Unter rechtlichen Gesichtspunkten fehlt im Fall von Tragic Choices eine universalisierte Verhaltenserwartung in Form einer unverzichtbaren, folgeindifferenten Norm, an die der Verantwortliche sich halten könnte, um rechtmäßig zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Stattdessen ist „man […] im Unrecht, wenn man zwischen Recht und Unrecht unterscheidet.“9 Dieser Mangel an unbezweifelbaren Möglichkeiten der Orientierung ist laut Luhmann allerdings nicht etwa Folge eines Versäumnisses des Rechtssystems und damit durch legislative Bemühungen zu beheben und er lässt sich auch nicht durch moralische Unterscheidungen substituieren.10 Stattdessen sei das Problem, das im Zusammenhang mit der Begründung des positiven Rechts der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft auftritt, unvermeidlich. Auch eine soziologische Analyse des Sachverhalts, so wie Luhmann sie unternimmt, könne deshalb keine einwandfreie Entscheidung liefern, wenngleich doch aber dazu beitragen, ein besseres Verständnis des Sachverhalts zu gewinnen.

Die Bedeutung des Normativen für die Gesellschaft besteht aus einer funktional-analytischen Perspektive in der Kondensation und Generalisierung von Verhaltenserwartungen, die kontrafaktisch angelegt sind und auch im Enttäuschungsfall durchgehalten werden.11 Das Rechtssystem differenziert sich gesellschaftlich aus, indem bestimmte Erwartungen bezüglich möglicher Handlungen jeweils durch bestimmte Normen, die allen bekannt sind und im Bedarfsfall durch Sanktionen gedeckt werden, zum Ausdruck gebracht werden. Das in den Normen kodifizierte Recht als Medium des Rechtssystems beschreibt Luhmann als Realitätsverdoppelung,

„so, wie man zwischen Spiel und Ernst unterscheiden kann oder nach der Evolution von Sprache zwischen den Sprachzeichen und dem, was sie bezeichnen; und Ähnliches gilt für die Annahme eines religiösen Hintergrundsinns der phänomenalen Welt oder für die Unterscheidung des Kunstsystems zwischen fiktionaler und realer Realität – wie immer man sich in solchen Fällen dann die Kopplung und die Möglichkeiten einer Grenzüberschreitung vorstellt.“12

Bei ausreichendem Abstraktionsniveau lässt sich feststellen, dass eine Realitätsverdoppelung bei der Evolution aller Systeme stattfindet, weil sie sich überhaupt nur schließen können, indem sie bestimmte, eigene Unterscheidungen, mit deren Hilfe allein sie Beobachtungen anzustellen in der Lage sind, in die sonst unterschiedslose Welt einführen.13 Funktionssysteme müssen ihre Realitätsverdoppelung jedoch begründen, weil sie darauf angewiesen sind, dass Bewusstseinssysteme ihre fiktionalen Unterscheidungen nutzen, um Mitteilungsabsichten zu entwickeln; und dies gelingt wiederum nur dann, wenn die betreffenden Bewusstseinssysteme davon ausgehen können, dass ihre kommunikativ verfassten Mitteilungsabsichten nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert werden.14 Bezogen auf das vorliegende Problem lautet die Frage dementsprechend: „ob und mit welchen semantischen Mitteln das Rechtssystem die Geltung bzw. Unverzichtbarkeit von Normen begründen kann.“15

Die ursprüngliche Antwort auf diese Frage war bis zum Übergang in die Moderne das Naturrecht gewesen: Aristoteles unterscheidet grundsätzlich zwischen einem natürlichen Zustand als Perfektion der teleologischen Ordnung und einem naturwidrigen Zustand der Natur. Normalerweise erreicht die Natur den in ihr selbst angelegten perfekten, gleichsam göttlichen Zustand. Nur, wenn sie diesen in Ausnahmefällen verfehlt, ist es nötig, mit dem am Naturgesetz orientierten Gesetz (nomos) die „defizienten Restbestände“16 zu überwinden. Auf diese Weise wird die Ordnung des Hauses und der Stadt, die qua ihrer Verfasstheit als hergestellte Rechtsordnungen eigentlich dem Bereich der Technik zugeordnet werden müssten, zu einem Naturrecht. Die Begründung einer Unverzichtbarkeit ergibt sich dabei aus dem Deckungsverhältnis zwischen natürlicher, göttlich perfekter Normalität und Normativität. Wer will sich schon mit Göttern anlegen, wenn er nicht gerade Zeit für eine 10-jährige Bootstour hat?

Auch im römischen Recht wird der zunächst vorhandene Unterschied zwischen natürlicher Ordnung und zivilisatorischer Entwicklung, der das zivile Recht dem Naturrecht grundsätzlich gegenüberstellt, letztlich aufgelöst: Zwar wird die zivilisatorische Entwicklung als Abweichung vom Naturrecht begriffen, weil sie das natürliche Verhalten der Lebewesen einschränkt; zugleich jedoch wird diese Einschränkung selbst mit einer Semantik der Natürlichkeit beschrieben, wodurch die Paradoxie, die jeder Unterscheidung zugrunde liegt, entfaltet werden kann: das Unterschiedene ist identisch, das Identische ist unterschiedlich.17 Laut Luhmann setzt sich dieses Phänomen im 18. Jahrhundert mit der Lehre vom Sozialvertrag und einem paradoxierten Freiheitsbegriff, der vor allem besagt, dass zur Freiheit auch der Verzicht auf Freiheit gehört, fort: die Auflösung erfolgt dann über die Unterscheidung von Freiheit und Willkür.

„In dieser Fassung hat die historische Semantik des Naturrechts die Feudalordnung und ihre Auflösung, den neu entstehenden Territorialstaat und den Übergang zum absolutistischen Staatsverständnis begleiten können; und auch der aufgeklärte Absolutismus, ja selbst der Übergang zum konstitutionellen Staat liberaler Prägung bedient sich noch des Naturrechtsgedankens.“18

Als Naturrecht war das Recht jeweils mit Begründungen verbunden, die ein weiteres Nachfragen nach etwaigen Begründungen der Begründungen nicht zuließen: in der Antike „war dies durch Ursprungsmythen garantiert gewesen […] [in] der frühen Neuzeit übernimmt die […] Metapher der ‚Rechtsquelle‘ diese Funktion.“19 Wenngleich in solchen Konstruktionen zum Ausdruck kam, dass die jeweiligen Normen aus sich selbst heraus Geltung besitzen und unverzichtbar sein sollten, ergab sich jedoch eine tatsächlich ausreichende Plausibilität hinsichtlich der Geltung und Akzeptanz aus solchen Reflexionsstopps allein nicht.

Aus soziologischer Perspektive darf man vermuten, dass solche semantischen Konstruktionen mit gesellschaftlichen Strukturen einhergehen müssen, um längere Zeiträume zu überdauern. Im Fall des Naturrechts finden wir solche Strukturen sowohl für die antike, wie auch die mittelalterliche Konstruktion des Rechtsgedankens in einer stratifikatorischen Differenzierung mit einer herrschenden Adelsschicht, an deren Spitzen Autoritäten über die Durchsetzung des Rechts und seiner Semantik wachen, indem sie Zuwiderhandlungen sanktionieren. Dass solche Gesellschaften mit, im Vergleich zu segmentären Gesellschaften höheren Komplexitätsanforderungen ein ziviles Recht benötigen, welches das wie auch immer konkret vorgestellte ursprüngliche Naturrecht ergänzt, ist leicht nachvollziehbar.

„Daß diese Ordnung als Abweichung vom Naturrecht deklariert werden muß, mag auffallen. Aber das reicht offenbar aus, um die Beziehung zur Natur, wie sie in einem Essenzenkosmos ewig gegeben oder wie sie von Gott geschaffen ist, darzustellen und den Abweichungen jeweils spezifische Begründungen zu geben. Diese Entparadoxierung der Paradoxie ist in der vorhandenen Ordnung, für die keine Alternativen in Sicht sind, plausibel.“20

Seit Einführung des Buchdrucks hat sich die Gesellschaft jedoch modernisiert: sie hat die stratifikatorische zu Gunsten einer funktionalen Differenzierung aufgegeben. Das war seit dem 16. Jahrhundert notwendig geworden, weil der Buchdruck die Gesellschaft mit einem hohen Maß an Überschusssinn konfrontiert hatte, der die Wirksamkeit der bisherigen Semantik allmählich auflöste. Aufkommende semantische Alternativkonstruktionen in allen Funktionsbereichen der Gesellschaft konnten von den Autoritäten nicht mehr dauerhaft unterdrückt werden, weil die massenmediale Verbreitung von Kommunikation nicht unterbunden werden konnte: man konnte Bücher zwar nachträglich verbieten, aber dann war die Wahrheit bereits unwiderruflich bekannt.21 Eines der berühmtesten, diese Transformation markierenden Ereignisse ist wohl die Entdeckung des heliozentrischen Weltbilds durch den Astronomen Nikolas Kopernikus, für dessen Verbreitung Galileo Galilei in einem Inquisitionsprozess wohl noch verurteilt, allerdings schon nicht mehr mit dem Tode, sondern lediglich mit Hausarrest bestraft wurde.22

Deutlich sind die Auswirkungen des Überschusssinns der Gutenberg-Galaxis auch an den Veränderungen des gesellschaftlichen Integrationsmodus der Individuen zu beobachten. Ihre soziale Stellung ergibt sich nun nicht mehr aus ihrer Herkunft, aus ihrer Geburt in eine Familie, der bestimmte Standesprivilegien zustehen oder verwehrt sind, sondern aus einer individuellen Karriere, die – zumindest prinzipiell – allen Individuen gleiche Chancen einräumt, wenngleich durch Merkmale wie Herkunft, Geschlecht und Rasse durchaus beeinflusst. Karriere heißt nun, dass die Integration in die Gesellschaft primär temporär orientiert ist „und jeder Schritt abhängt von einem kontingenten […] Zusammenwirkung von Selbstselektion und Fremdselektion.“23

Allgemein ändert sich mit der Auflösung der stratifikatorischen Ordnung und der beginnenden funktionalen Ausdifferenzierung die zeitliche Orientierung der Gesellschaft im Ganzen. Vergangenheit und Zukunft sind – wie man an den ständig vorkommenden Alternativkonstruktionen der Welt ablesen kann – jetzt „nicht mehr durch Wesensformen mit zugeordneten Notwendigkeiten/Unmöglichkeiten immer schon verbunden“24, sondern von Entscheidungen abhängig, die durch eine prinzipielle Kontingenz gekennzeichnet sind. Daraus ergibt sich eine Instabilität der Kommunikationsverhältnisse, mit der die Gesellschaft umgehen muss. Sie tut dies, indem sie Zusatzeinrichtungen entwickelt, die ihrerseits Stabilität aus ihrer eigenen Instabilität gewinnen können. Gemeint sind symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die auf Unterscheidungen wie Eigentum/Nicht-Eigentum, Macht/Machtlosigkeit, Wahrheit/Unwahrheit, und eben auch Recht/Unrecht basieren, und für die jeweils spezifische, aber variable Programme bestimmen, welche Seite der Unterscheidung jeweils gewählt werden muss. Bezogen auf das Recht heißt das: Normen werden jetzt als Entscheidungen beobachtet, die auch anders hätten gefällt werden können, Recht wird als positives Recht charakterisiert.

„Wenn diese Analyse auch nur im Groben zutrifft, muß dies Konsequenzen haben für das Thema der Unverzichtbarkeit einer oder mehrerer fundamentaler Normen. Es wäre sicher voreilig, hieraus auf ‚Dezisionismus‘, Relativismus oder grundsätzliche Beliebigkeit des ‚anything goes‘ zu schließen. […] Man wird im Gegenteil erwarten müssen, daß auch eine derart rekursive, nicht hierarchisch, sondern heterarchisch geordnete Struktur kontingenter Operationen ‚Eigenwerte‘ erzeugt und ‚inviolate levels‘ projektiert, die ihrem Ordnungstypus gerecht werden. Die Frage ist nur: in welchen Formen?“25

In der Moderne werden unverzichtbare Normen mit Hilfe von Werten begründet, die sich für die Lösung des Problems des Reflexionsstopps eignen, weil durch sie höchstrelevante normative Gehalte „nicht thesenförmig behauptet werden, sondern per implicationem mitlaufen.“26 Werte werden als gemeinsam geteilte Hintergrundüberzeugungen vorausgesetzt, die nicht explizit diskutiert werden müssen, ja, nicht explizit diskutiert werden dürfen, weil eine solche offene Thematisierung immer die Möglichkeit beinhaltet, dass das Kommunikationsangebot abgelehnt wird. Eine weitere Begründung für die Akzeptanz eines oder mehrerer Werte wird damit nicht nur unnötig, sondern im Normalfall auch weitgehend unmöglich gemacht.

Die große Zahl an unterschiedlichen Werten wird durch eine Wertordnung mit Grundwerten organisiert.“Hier werden dann Traditionsbegriffe wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Würde, Wohlfahrt, Solidarität benutzt, um Sonderrang zu markieren.“27 Aber diese Ordnung bildet keine vollständige Hierarchie ab, weshalb die unzähligen Werte leicht in Konflikte geraten, für deren Lösung sie selbst dann keine Entscheidungskriterien liefern können. Es ist unmöglich zu entscheiden, welche Werte anderen Werten immer vorzuziehen sind. Ob beispielsweise Freiheit stets wichtiger ist als Sicherheit oder Frieden Freiheit immer vorgezogen werden sollte, lässt sich nicht endgültig entscheiden. Wohl können Werte von ihren Gegenwerten unterschieden und dabei eine Seite der Unterscheidung präferiert werden (Krieg/Frieden), aber verschiedene Werte „schließen einander nicht aus, sie lassen daher immer auch das Hinzufügen neuer Werte zu.“28 Tatsächliche Wertkollisionen bleiben zwar auf Einzelfälle beschränkt, aber genau dies sind laut Luhmann die wichtigen Situationen, in denen Werte ihre Entscheidungsrelevanz erweisen müssten. Oder anders formuliert: „Sie verlieren ihren direktiven Wert genau dann, wenn er benötigt wird.“29

Spitzenwertkollisionen lassen sich auf Grund ihrer Gleichwertigkeit der betroffenen Werte nicht generell – zum Beispiel durch Aufhebungs- oder Ausnahmeregelungen – lösen, und zu ihrer Entscheidung kommt es auf die Informationen an, die sich aus der konkreten Situation gewinnen lassen. Das Verhältnis von Werten und Entscheidungen beschreibt mithin eine ideale Paradoxie: Wenn man Entscheidungen auf ein Wertfundament stellt, um ihnen einen Rückhalt im Unbezweifelbaren zu geben, gibt man das Fundament durch die Entscheidung gerade der Kontingenz Preis, weil die Entscheidung über die Beachtung von Werten im Entscheidungsfall nicht unbezweifelbar geregelt sein kann.30

Aber Entscheidungen müssen getroffen auch in solchen Fällen getroffen werden, denn die „Unverzichtbarkeit der Norm – das ist die Autopoiesis des Systems.“31 Eine mögliche Lösung des Problems ist eine Entscheidungspraxis wie sie im Common Law typisch ist: gerichtliche Entscheidungen werden als Präzedenzfälle behandelt und haben dann Einfluss auf künftige Entscheidungen, ohne diese vollständig zu regeln.

„Auf keinen Fall kann aus der paradoxen Fundierung des Rechts auf Beliebigkeit der Entscheidungen geschlossen werden und auch nicht auf externe Einflüsse auf die Rechtspraxis.“32

Entscheidungen müssen im konkreten Fall getroffen werden und sich an den systemintern erzeugten Vorgaben orientieren. Solange dies (weiterhin) gelingt, solange das System seine „Autonomie strukturieren, Selbstdetermination und operative Schließung“33 sicherstellen kann, hat es offenbar eine Möglichkeit gefunden, mit dem Mangel an unverzichtbaren Normen umzugehen. Luhmann weist darauf hin, dass durch eine solche, in der Praxis der Rechtsprechung schon durchaus etablierte Vorgehensweise das Problem von unverzichtbaren Normen bereits durchaus effizient überwunden wird. Auch im Fall von Tragic Choices, lässt sich dann in diese Richtung nach möglichen (Einzelfall-)Lösungen suchen, etwa durch eine Erlaubnis der rechtswidrigen Durchbrechung des Rechts in bestimmten Fällen. Im eingangs beschriebenen Fall der Folter von Terroristen zum Zweck der Gewinnung von Informationen, die möglicherweise Menschenleben retten könnten, könnte das laut Luhmann bedeuten:

„Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung, Verschiebung der Unterscheidung Recht/Unrecht in die Option des Opfers, Held oder Verräter zu sein. Insgesamt keine sehr befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert.“34

Schließlich weist Luhmann noch darauf hin, dass sich „derzeit eine steigende Aufmerksamkeit für Probleme der Menschenrechte beobachten“35 ließe, die sich durch eine hohe Frequenz massenmedialer Berichterstattung ausdrücke. Er interpretiert das als eine Generierung von Normen durch Skandalisierung von Ereignissen, die – unabhängig von den kodifizierten Normen – allein durch die berichtete Dramatik (z.B. von rechtswidrige Verhaftungen, Folterungen oder politischen Morden) auf einer unmittelbaren Ebene stattfindet.

„Die Normgenese folgt dem Durkheim-Modell, sie bedient sich der colère publice. Eine juristische Formgebung, eine völkerrechtliche Regulierung kann daran nur anschließen, aber nicht selbst die Rolle einer Rechtsquelle übernehmen.“36
Eine in Bezug auf solche Probleme übermäßige Bemühung der Menschenrechte als Argumentationsgrundlage laufe laut Luhmann aber Gefahr, eine Inflationierung zu forcieren und den Eindruck zu manifestieren, die Menschenrechte würden grundsätzlich nicht eingehalten. Seine Empfehlung: eine Konzentration auf diejenigen Fälle, die „welteinheitlich erfahrene Menschenrechtsverletzungen“37 darstellen, also: „Unrecht auf jeden Fall.“38

An dieser Stelle drängt sich jedoch eine andere Beschreibung des Sachverhalts auf, in der die massenmediale Aufmerksamkeit für die Menschenrechte nicht deren Unbegründbarkeit markiert, sondern, ganz im Gegenteil, eine geradezu universelle Akzeptanz der sie begründenden Werte. Luhmann geht möglicherweise zu Unrecht davon aus, dass Wertkonflikte dazu führen, dass die grundsätzliche Unbegründbarkeit von Normen wegen ihres positiven (und damit kontingenten) Charakters tatsächlich gesellschaftliche Überzeugungskraft besitzt. Es stimmt, Grundwerte bieten keine Entscheidungsgrundlage im Fall von Wertekonflikten (und damit im Fall von Tragic Choices), aber auch nur dann. Und diese Fälle sind, wie Luhmann es selbst sagt: Ausnahmen.39 Bezogen auf das zu Beginn erwähnte Beispiel dominieren nämlich Beobachtungen, welche die Entscheidungen mit Hinweis auf die Grundwerte der westlichen Welt verurteilen. Bezeichnend ist, dass sie die Tragik der Situation dabei durchaus wahrnehmen, aber dennoch an einer Einschätzung über die Unverzichtbarkeit der missachteten Normen festhalten. So betont Phillippe Sands in Torture Team beispielsweise:

„I’ve no doubt that the fear that motivated the decisions may have been palpable and real and that many people on the ground at Guantánamo acted in good faith. But did it justify the actions that were taken? […]. In any event, neither Geneva nor the Torture Convention allowed the total constraints on cruelity to be undone by the necessities, real or imagined.“40
Nicht nur die Form des Werts bleibt offenbar von den Konflikten unberührt, sondern ebenfalls ihre konkrete Semantik und damit ihre Wirksamkeit.41 Von Problemen im Ausnahmefall lässt sich die moderne Suche nach universell gültigen Begründungen also nicht beirren. Luhmanns Beobachtung eines „unstillbaren Hunger[s] nach Aprioris“42 ist durchaus wörtlich zu nehmen. Der Ursprung dieses ungezügelten Appetits ist in den Komplexitätsreduktionsmechanismen der Moderne, die als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zur Verfügung stehen, zu suchen: Deren Programme – die den Zweck haben, zu beschreiben, welche Seite der Unterscheidung der jeweiligen Funktionsmedien zu wählen ist – sind zwar nur temporär bindend, im jeweiligen Moment aber für alle.43 Diese Geltung muss plausibel begründet werden und genau das leisten Aprioris. Zu diesem Zweck entwirft die Moderne denn auch das transzendentale Subjekt, das im Gegensatz zu Luhmanns Einschätzung seinerzeit noch nicht versagt hatte.44 Und noch Habermas sucht mit seinem quasi transzendentalen Konzept der Lebenswelt genau nach einer solchen Begründung, auf deren Grundlage sich Wahrheit und Vernunft unabhängig von bewusstseinsinternen Konstruktionsleistungen eindeutig bestimmen lassen.45

So betrachtet mag es fast scheinen, als hätte Luhmann seine Diagnose verfrüht gestellt. Sein Vorschlag zur Behandlung des Problems unverzichtbarer Normen wurde, wie die gesamte Systemtheorie, ja die philosophischen Konzepte des Konstruktivismus und der Dekonstruktion überhaupt, von der Moderne und ihrer „Tradition […] einer Fehlsteuerung der Problemstellung“46 als Affront behandelt und weitestgehend ignoriert. Damit soll jedoch keinesfalls gesagt sein, dass die Theorie nicht halte, was sie verspricht – Luhmanns Diagnosen sind durchaus plausibel und erhalten seit Beginn des 21. Jdh. zu Recht zunehmend mehr Beachtung, und seine Beobachtungsangebote könnten gerade jetzt passend sein: Dirk Baecker schlägt in Studien zur nächsten Gesellschaft vor, jene Kulturform, die sich mit dem Internet entwickelt, als Kulturform der Form selbst zu bezeichnen.47 Diesen Vorschlag begreifen wir als einen Denkanstoß: wie sinnvoll wäre es anzunehmen, dass Luhmanns Lösungen gerade in der nächsten Gesellschaft auf Grund einer, von der modernen Form abweichenden primären Differenzierung höchst aktuell sein könnten? Zumindest verhärten sich allmählich die Indizien dafür, dass sich in der netzwerkförmig angelegten Kommunikationsstruktur, die mit dem Internet entstanden ist, Vorstellungen über letztgültige Prinzipien tatsächlich nicht mehr halten lassen.

Quellen

Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1856).

Fölsing, Albrecht: Galileo Galilei: Ein Prozess ohne Ende. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1996.

Goldsmith, Jack: The Terror Presidency. Law and Judgment inside the Bush Administration. New York, London: W.W. Norton & Company 2007.

Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 (2 Bd.) (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1175).

Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp 1999 (2 Bd.) (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1360).

Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Aufsätze und Reden. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart: Reclam 2001. S.76-93.

Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? In: Die Moral der Gesellschaft. Hrsg. von Detlef Horster. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1871). S.228-269.

Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2000 (=UTB 2185).

Mayer, Jane: The Dark Side. The Inside Story of How the War on Terror Turned into a War on American Ideals. New York, London, u.a.: Doubleday 2008.

Sands, Philippe: Torture Team. Rumsfeld‘s Memo and the Betrayal of American Values. New York: Palgrave Macmillan 2008.

Spencer-Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. 2. Aufl. Lübeck: Joh. Bohmeier Verlag 1999.

Online-Quellen

Amnesty International Jahresberichte der Jahre 1998, 1999 und 2000.
URL: http://www.amnesty.de. (31.08.2010).

Lewis, A. Neil: Broad Use of Harsh Tactics Is Described at Cuba Base. In: The New York Times (17.10.2004).
URL: http://www.nytimes.com/2004/10/17/politics/17gitmo.html. (31.08.2010).

Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom 28.04.2004.
URL: http://www.cbsnews.com/stories/ 2004/04/27/60II/main614063.shtml. (31.08.2010).

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Tragische Entscheidungen (400 Kb)


Anmerkungen:

  1. Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom 28.04.2004.
  2. Vgl. für viele Lewis, A. N.: Broad Use of Harsh Tactics Is Described at Cuba Base.
  3. Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom 28.04.2004.
  4. Vgl. u.a. die Hinweise in den Jahresberichten von Amnesty International 1998, 1999 und 2000 abzurufen unter http://www.amnesty.de.
  5. Ob diese offizielle Darstellung ausreichend plausibel ist oder nicht, soll hier nicht entschieden werden. Es geht hier nicht um die Bewertung von Alternativdarstellungen, sondern darum, die allgemeine moralische Entrüstung zu verstehen, welche die Ereignisse in den Rang eines Skandals erhob.
  6. Die Frage, ob Informationen, die im Zusammenhang mit Folter gewonnen werden können, überhaupt nützlich sind, ist selbstverständlich ungeklärt. Aber gerade deshalb kann diese Frage im konkreten Fall nicht im Vorfeld beantwortet werden, weil man die Nützlichkeit der gewonnenen Informationen erst bewerten kann, wenn die Folter bereits stattgefunden hat.
  7. Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.229.
  8. Goldsmith, J.: The Terror Presidency. S.11f.
  9. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.229.
  10. Vgl. ebd. S.230.
  11. Vgl. ebd. S.231.
  12. Ebd. S.231f.
  13. Spencer-Brown, G.: Laws of Form.
  14. Vgl. Luhmann, N.: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation.
  15. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.233.
  16. Ebd. S.234.
  17. Vgl. ebd. S.235.
  18. Ebd. S.236.
  19. Ebd.
  20. Ebd. S.238.
  21. Vgl. Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft.
  22. Vgl. dazu Fölsing, A.: Galileo Galilei.
  23. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.239.
  24. Ebd.
  25. Ebd. S.240.
  26. Ebd. S.241.
  27. Ebd. S.242.
  28. Ebd. S.243.
  29. Ebd.
  30. Vgl. ebd. S.244.
  31. Ebd. S.245.
  32. Ebd. S.244f.
  33. Ebd. S.245.
  34. Ebd. S.248f.
  35. Ebd. S.249.
  36. Ebd.
  37. Ebd. S.251.
  38. Ebd.
  39. Vgl. Ebd. S.243.
  40. Sands, P.: Torture Team. S.224. Vergleiche dazu auch Mayer, J.: The Dark Side. S.327f: „(…) the Bush Administration invoked the fear flowing from the attacks on September 11 to institute a policy of deliberate cruelty that would have been unthinkable on September 10.“
  41. Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.242.
  42. Ebd. S.241.
  43. Nur so können die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wirksam sein. Vgl. Luhmann, N.: Vertrauen.
  44. Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.232. Und die Hinweise zur konkreten massenmedialen Berichterstattung: „Man stellt vermeintlich grundlegende Bedürfnisse und Interessen ‚des‘ Menschen zusammen und fordert Abhilfe.“ Ebd. S.250.
  45. Vgl. Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns.
  46. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.230.
  47. Vgl. Baecker, D.: Studien zur nächsten Gesellschaft.
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Probleme mit Gott http://www.gesellschaftundkontingenz.de/2010/06/07/probleme-mit-gott/ Mon, 07 Jun 2010 09:35:56 +0000 http://www.gesellschaftundkontingenz.de/?p=125 Das Anliegen, religiöse Themen mit den Werkzeugen und Methoden moderner Wissenschaften zu bearbeiten, führt zumeist zügig in eine nicht unproblematische Auseinandersetzung, die sich traditionell an der Unterscheidung Glauben/Wissen orientiert. Insbesondere die Soziologie erregte stets die Gemüter, wenn sie sich auf religiöses Terrain begeben hat – und tut dies bis heute, aus einem Grund, den Luhmann als das Prinzip des Verdachts bezeichnet: die Soziologie muss hinter den sichtbaren Handlungen der Menschen verborgene Motive und Interessen vermuten, aufspüren und beschreiben können, wenn sie etwas zur Diskussion beitragen will, das über die ohnehin alltäglich beobachtbaren und deshalb trivialen Ereignisse hinausgeht. „Sie geht zwar vom gemeinten Sinn des Handelns aus, glaubt aber nicht, daß Menschen wirklich wissen, was sie tun und warum sie es tun.1

Auf Grund dieser Bringschuld hat sich die Untersuchung von latenten Strukturen wie ein archimedischer Punkt als Beobachtungsprämisse in den Geistes- und Sozialwissenschaften manifestiert. Abgesehen davon, dass eine Untersuchung des Verborgenen eine, sich in gewisser Weise selbst blockierende Zielvorgabe ist, hebt diese Einstellung die Soziologie gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand laut Luhmann in eine überlegene Position: in ihrer Reflexion glaubt sie tatsächlich, mehr sehen zu können als andere Beobachter und wird deshalb überheblich. In Bezug auf Religion besteht dann die Gefahr, dass der Untersuchungsgegenstand als etwas Irrationales wahrgenommen wird oder als eine Befriedigung von Bedürfnissen, die  im Orbit einer modernen Welt als naiv und substituierbar erscheinen.

Diese Zwangsposition der Soziologie löst sich mit dem Übergang zur Theorie operativ geschlossener, autopoietischer Systeme jedoch auf. Weil sie sich selbst als geschlossenes System mit eigenem blindem Fleck und die damit einhergehende Unzulänglichkeit ihrer Beschreibungen reflektieren muss, schützt sich die Selbstbeschreibung der Gesellschaft davor, der bessere Beobachter zu sein. Dies ist die Ausgangslage, von der aus Luhmann einen Anschluss an den theologischen Diskurs zu finden bemüht ist und die alles entscheidende Frage nach der Unterscheidung Gottes stellt.

Leitunterscheidung Immanenz/Transzendenz

Luhmann beschreibt die Leitdifferenz der Religion als Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz. Er erreicht auf diese Weise ein ausreichendes Abstraktionsniveau, um dem Kontingenz bewältigenden Operationsmodus der Religion Epochen übergreifend gerecht zu werden: Religion ist die Beschreibung einer Wirklichkeit, in der es grundsätzlich einerseits weltliche, profane, erfahrbare, sichere also immanente Begebenheiten gibt und andererseits solche, die den Horizont der Lebenswelt als das Wissen und die Erfahrung des Menschen überschreiten und sich als transzendente Sinnzusammenhänge der Erfahrung prinzipiell entziehen. Als Teilsystem der Gesellschaft, ermöglicht Religion also die Kommunikation über Unsicherheiten und Sinnfragen, die sie mit Hilfe ihres Codes zu allererst erzeugt und zugleich in eine in der Kommunikation bearbeitbare Form bringt.2

Binäre Codierung ist die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Codierungen aller symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Codes haben einen Positivwert, der als aktualisierte Kommunikation Anschlussfähigkeit garantiert und einen Negativwert, der die Akzeptanz eines Kommunikationsangebots ablehnt. Der Negativwert besitzt die Funktion eines Reflexionswerts, der im Zuge der Ausdifferenzierung Irritationspotenzial zur Verfügung stellt. Dies gilt für alle funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft – nur nicht für das Religionssystem.

Die Umkehrung der Präferenz

Auf Grund ihrer Funktion der Beobachtung der Transzendenz, steht die Religion der Gesellschaft vor der Herausforderung, „[…] die Horizonthaftigkeit allen Sinnes“3 codieren zu müssen. Daraus ergibt sich, dass sie den aktuell immanent erlebten Sinn als instabil kennzeichnet, während die Transzendenz als Horizont die Möglichkeiten des Möglichen repräsentiert. Das, was also sicher und evident zu sein scheint, ist zugleich permanent aktualisierbar und deshalb unsicher, während das, was nicht aktualisiert werden kann und durch die Abgrenzungsfunktion eine reichlich unsichere Dimension jenseits der Markierung bereit hält, als stabil betrachtet wird. Mit anderen Worten: den in anderen Funktionssystemen sonst beachteten Unterschied „[…] von Aktualität und Möglichkeit hebt die religiöse Codierung auf, indem sie ihn der Immanenz zuweist (und üblicherweise an der Endlichkeit des Menschen festmacht) und für die Transzendenz das Gegenteil postuliert: daß sie sicher und stabil, evident und von alles durchdringender Dauer sei.“4

Damit ist der Weg vorgegeben, auf dem für die Religion Potenziale zur Ausdifferenzierung liegen. Erstens muss sie die Transzendenz mit Anschlussfähigkeit versorgen – was zunächst nichts anderes heißt, als: für Kommunikation verfügbar machen – und erfindet dafür in den allermeisten Fällen die Chiffre Gott. In diesem Zusammenhang wird eine Gruppe von Göttern oder ein Gott als Schöpfer verstanden, der sich im Akt der Schöpfung von der Schöpfung selbst unterschieden hat und dies in der Trinität reflektiert.5 Er hat sich mit der Erschaffung der Welt seinen eigenen Möglichkeitshorizont geschaffen: alles, was möglich ist, ist in der Transzendenz immer schon enthalten, festgelegt und/oder vorhergesehen. Und zweitens kann sie es bei der Beschreibung der theistischen Option dann kaum mehr vermeiden, Ihn – wenn als das Ganze, das Eine und Allumfassende – zugleich auch als das Gute zu beschreiben, was im Umkehrschluss nichts anderes bedeutet, als dass die übrige Welt, um sich von Ihm zu unterscheiden, als Mangel, Unvollkommenheit und dann auch als bloße Vorstufe des Jenseits oder des Paradieses betrachtet wird.

Taxonomie: Gott und Teufel

Nicht nur das Christentum nutzt für die Beobachtung Gottes den Teufel als andere Seite der Unterscheidung, der zur Sünde verführen und ein gottgefälliges Leben verhindern will, damit er die armen Seelen im Fegefeuer der Hölle malträtieren kann. Die Einhaltung der Gebote ist umgekehrt die Voraussetzung für den Eintritt ins Himmelreich. Es ist offensichtlich, dass die Religion mit dieser Ausdifferenzierung eine Moralisierung vornimmt, also Angaben über Achtung und Nichtachtung macht. Dabei ist der Negativwert anschlussfähiger als der eigentliche Positivwert Heil: „Über die Hölle läßt sich (allein schon wegen der Notwendigkeit leiblicher Anwesenheit) sehr viel mehr sagen als über den Himmel, und auch das Tarifsystem der Hölle läßt sich viel besser beschreiben als das des Himmels.“6

In segmentären und stratifizierten Gesellschaften, in denen die Kompetenz, spezifische Aussagen über die Transzendenz zu treffen, religiösen Autoritäten wie selbstverständlich überlassen bleibt, ist das ohne weiteres machbar, aber spätestens mit Aufkommen des Buchdrucks gehen die Voraussetzungen für eine moralisierende Lösung unwiederbringlich verloren: ausgezeichnete Beobachterpositionen der Transzendenz verlieren ebenso ihre Plausibilität, wie ausgewiesene Orte, an denen das Göttliche besonders nah erfahren werden könnte:

„Es gibt keine heiligen Plätze, Orte, Bilder mit privilegierter Gottesnähe. Die Differenz von sakral und profan wird zumindest theologisch überwunden und dem Volksglauben überlassen“7

Der genaue Weg in den Himmel wird jetzt nicht mehr durch die kirchlichen Autoritäten gewiesen, sondern ergibt sich nur noch aus den heiligen Schriften, die in Europa nach Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen zumindest all denjenigen zur Lektüre zur Verfügung stehen, die die Technik des Lesens beherrschen. Damit verschwimmen aber die  Voraussetzungen für den Zugang zum ewigem Leben: Der Buchdruck macht Fragen der Moral zu einem Diskursevent, der die Autorität zum größten Ärgernis aller Theoretiker des kommunikativen Handelns nicht ersetzen kann, weil er gerade nicht in einen vernünftigen Konsens mündet und deshalb die nötige universelle Akzeptanz der moralischen Vorgaben allmählich auflöst. „Die Vorbedingungen des Codes Heil und Verdammnis liegt in der Erkennbarkeit, ja mehr noch: in der Institutionalisierbarkeit von Kriterien der Selektion. Man muß, mit anderen Worten, unterstellen können, daß auch andere sich in Heilserwartungen an dieselben Kriterien halten – allein schon, um sicher zu sein, daß man im Himmel nicht mit überraschend unangenehmen Bekanntschaften konfrontiert sein wird.“8

Wozu soll man die Bedingungen für die Unterscheidung von Achtung/Nichtachtung akzeptieren, wenn man nicht mehr wissen kann, ob man auf diese Weise tatsächlich das Seelenheil erlangen kann? Es ist leicht nachvollziehbar, dass diese Entwicklung für den Teufel und seine Hölle keinen vorteilhaften Ausgang haben kann: „Wir können, wohl auch ohne nähere empirische Untersuchung, davon ausgehen, daß es zumindest auf dieser Seite der Religion eine kaum reversible Erosion des Glaubens stattgefunden hat. Der arme Teufel wird nur noch verspottet.“9

Die Religion muss ab jetzt versuchen, sich von moralischen Regelwerken als Eintrittsbedingungen zum Paradies zu befreien. Der Teufel, der all das ist, was Gott nicht sein sollte, ist jetzt nur noch im Weg. Bis sich die Religion in dieser neuartigen Situation jedoch in ausreichendem Maße orientiert hat, kommt es zu verheerenden Glaubenskriegen überall in Europa.

Amoralische Versuche

Einen Ausweg findet die Religion in Konstruktionen wie dem vergebenden Gott, der auch Sündern einen Eintritt in sein Reich ermöglicht, solange sie nur Reue zeigen und an ihn glauben, aber auch in der – in Bezug auf die Unvollkommenheit der Welt – Unergründlichkeit der Wege des Herrn. Gott ist nun nicht mehr darauf angewiesen, dass sich die moralische Ordnung der Welt erweist, weil Bösartigkeit, Gewalt und Krankheit als Prüfungen des Glaubens an ihn interpretiert werden können. Im Gegenteil, Gott hat den Menschen mit der Entscheidungsfreiheit ausgestattet, sich gefügig oder auflehnend zu verhalten. Und wenn Er nach irdischen Maßstäben weder gut noch böse ist, verliert der Teufel schnell seine Funktion als Gegenspieler.

Aber dieser Lösung überzeugt nicht für sich genommen. Auch ein amoralischer Gott beobachtet die Menschen, wozu sonst sollte es ihn geben. Das heißt, er muss unterscheiden, um Informationen zu gewinnen. Mit anderen Worten: man müsste beobachten können, „[…] welche Unterscheidung er (im Unterschied zu anderen) verwendet.“10 Und eben hier offenbart sich das generelle Problem, das die Religion mit Gott hat: Als Chiffre ist Gott, wie auch immer man die Unterscheidung letztlich ansetzt, eine immanente Figur, die dem Sinnhorizont der Transzendenz immer schon gegenüber steht. Jede Antwort auf  die Frage nach Gott ist nur eine unter vielen möglichen Antworten, die jene Seite, auf die sie sich beziehen wollen gar nicht erreichen können. Aus rein logischen Gründen können Beobachtung und Kommunikation nur als Formen auftreten, als unterschiedene und unterscheidende Seite der Operation und nicht als andere Seite, als unmarked space selber.11 Auf die andere Seite der Unterscheidung gelangen sie nur durch ein crossing, das jedoch wiederum eine Form und einen unendlich großen unmarked space erzeugt.

Aus dem gleichen Grund ist auch Kommunikation mit Gott prinzipiell unmöglich. Die Gesellschaft ist ein operativ geschlossenes und umweltoffenes System. Sie besteht aus sinnhaften Kommunikationen und garantiert die Möglichkeiten ihrer autopoietischen Reproduktion bei „[…] hinreichend unspezifischen Umweltressourcen.“12 Natürlich setzt sie voraus, dass es in ihrer Umwelt andere soziale Systeme, Bewusstseinssysteme, Leben, Materie und so weiter gibt. Es sind wiederum soziale Systeme und Bewusstseinssysteme, die als Ausdifferenzierungsphänomene des Gesellschaftssystems in Erscheinung treten. Jedoch: „Die Gesellschaft kann nicht mit ihrer Umwelt, sie kann nur über ihre Umwelt kommunizieren.“13 Das alles hat zur Folge, dass es außerhalb der Gesellschaft keine Kommunikation geben kann. Gott kann demnach kommunikativ nicht erreicht werden.

Das grundsätzliche Problem der Religion mit Gott hat mithin die Form eines logischen Widerspruchs: wenn Gott kommuniziert, dann ist es nicht  Gott.  Wenn man Gott beobachten kann, dann bekommt man alles andere, nur nicht Gott in den Blick. Erreichbar ist Gott höchstens durch den Tod oder die vollkommene Erleuchtung, mit der jede Unterscheidung endet, weil das System, das unterschieden hatte, zu sein aufhört und mit der Welt, die es zuvor umgeben hatte eins wird. Aber das ist dann nicht nur das Ende der Autopoiesis des Systems, sondern seiner Fähigkeit zur Beobachtung überhaupt.

 

Das Gebet: Zwischen Negation und Existenzbeweis

Die Theologie hat laut Luhmann für die Kommunikationsrichtung Gott – Mensch eine Lösung gefunden, indem sie schlicht behauptet, dass der Text eine historisch einmalige Offenbarungsleistung des Schöpfers war, der danach und bis heute nichts mehr von sich hören ließ.14 In der Form des Gebets wird jedoch an der Idee, man könne mit Gott kommunizieren, bis heute unbeirrbar festgehalten – ja, es erscheint gar als unverzichtbar, auch wenn man Gott nicht über etwas informieren kann, das er nicht bereits wusste, auch wenn man Gott nicht zu etwas bewegen kann, das er nicht ohnehin geplant hat. Den Grund für dieses Beharren auf der kommunikativen Erreichbarkeit Gottes  liegt laut Luhmann unter anderem in einer Art Ablenkungsmanöver, das den skeptischen Beobachter beschäftigen soll: „Würde die Gesellschaft sich auf Kommunikation über Gott beschränken, würde sie Negationsmöglichkeiten und Alternativformulierungen Tür und Tor öffnen. […] In der Kommunikation mit Gott ist dagegen all diese Kontingenz ausgeschlossen: Man könnte und würde ja nicht mit ihm kommunizieren, wenn es ihn nicht gäbe.“15

Die Möglichkeit, mit Gott zu kommunizieren, impliziert dessen eigene Existenz. Im Gebet wird also ein Folgeproblem deutlich, das sich aus der Gotteskonstruktion ergibt, wenn die kirchliche Autorität keine uneingeschränkte Macht mehr besitzt: Religion gefährdet sich mit der Beobachtung Gottes selbst, weil sie ihre Beobachtungen der Beobachtung 2. Ordnung aussetzt. Wenn die Transzendenz der kommunizierte Wert ist, kann sie negiert werden. So erlaubt der Code, neben seiner Annahme, seine eigene Ablehnung  durch die Sünde.16 Die Transzendenz kann ignoriert, ersetzt oder sogar geleugnet werden, und all das müsste die Religion verarbeiten können, obwohl sie sich auf einen oder mehrere Texte als Offenbarung festgelegt hat. Wenn man Glück hat, kann man auf unterschiedliche Überlieferungen zurückgreifen oder die Diskussion in eine fortwährende Tradition der Interpretation der Textvorlage ableiten. Aber auch dieser Form der Flexibilität sind relativ enge Grenzen gesetzt. Die Systeme müssen im Rahmen der doppelten Kontingenz zusichern können, dass Kommunikationsofferten einen Impact haben, da es sonst keinen Anreiz für Kommunikationsofferten gibt. Davon ist die Religion, auch nach Aufgabe moralischer Zweitcodierungen noch immer nicht befreit.

Luhmann optimistisch

Auf Grund dieser Diagnose schlägt Luhmann der Religion vor, sie solle es doch einmal ohne Gott versuchen. Wenn das, was die Religion zu bieten hat, immer schon als nur eine kontingente Beschreibung von vielen abgelehnt werden kann,17 wenn die Chiffre als immanente Beschreibung der Transzendenz diese mit unausweichlicher Sicherheit ohnehin verfehlt, dann erscheint dieser Vorschlag durchaus attraktiv zu sein. Die Religion könnte sich stattdessen auf einen Modus des bloßen Fragens beschränken und auf diese Weise die Aufmerksamkeit dafür erhalten, dass jede Antwort auf die Frage nach dem Sinn allen Sinnes fraglich bleibt. Die Antwort wäre der Prozess des Fragens selbst. In Bezug auf die Existenz – sei sie auf das menschliche Dasein oder die systemische Kommunikation bezogen – spricht die moderne Religionssoziologie der Religion die Fähigkeit der Kontigenzbewältigung zu. Der Begriff „Bewältigung“ ist dementsprechend treffend gewählt, da es gerade nicht um eine Überwindung von Kontingenz geht, sondern um die verschiedenen Formen, (ritualen) Praxen und Programme, die eine mögliche, und daher immer kontingente, Antwort auf die Frage nach dem Sinn allen Sinnes bieten. Im Modus des Fragens bliebe die Funktion der Religion also durchaus erhalten, wenngleich sie alle Probleme mit Gott über Bord werfen könnte.

Bleibt nur die Frage, weshalb die Religion diesen Vorschlag Luhmanns zumindest bis heute nicht dankend angenommen hat. Wir vermuten den Grund dafür in einer, für Luhmann charakteristischen Überschätzung der Reflexions- und Komplexitätsverarbeitungspotenziale der Moderne. Luhmann gibt hier möglicherweise eine Prise Optimismus zu viel in die Beschreibung der Gutenberg-Galaxis und ihrer Fähigkeiten, mit Kontingenzerfahrungen umzugehen. Es ist durchaus zutreffend: die Temporalisierung der Programme der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der Funktionssysteme ist eine Voraussetzung ihrer Akzeptanz. Aber das schützt die Systeme offenbar nicht davor, trotz allem nach einem letzten Prinzip, einer nicht mehr falsifizierbaren Wahrheit18 oder nach unverzichtbaren Normen19 zu suchen.

Eine Veränderung dieser Situation tritt möglicherweise mit dem Internet als jüngstem Verbreitungsmedium ein: wenn Dirk Baecker mit seiner Vermutung Recht hat, dass die Kulturform der nächsten Gesellschaft die Form der Form selbst ist,20 dann könnte darin ein Zugewinn an Reflexionspotenzial vermutet werden, mit dem die Suche nach letztgültigen Formen als nicht mehr zeitgemäß ablehnt und überwunden werden kann. Die Form der Form würde jedoch voraussetzen, dass die Teilsysteme Möglichkeiten fänden, mit Kontingenz so umzugehen, dass die Motivation zur Kommunikation erhalten bliebe. Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation muss in ausreichendem Umfang in Wahrscheinlichkeit transformiert werden. Gelänge dies, hätten sich die Probleme mit Gott erledigt.

Quellen

Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1856).

Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft. Hrsg. von André Kieserling. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1581).

Luhmann, Niklas: Die Unterscheidung Gottes. In: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. S.250-268.

Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1001).

Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? In: Die Moral der Gesellschaft. Hrsg. von Detlef Horster. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1871). S. 228-252.

Luhmann, Niklas: Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? In: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. 4 Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. S.241-249.

Spencer-Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. 2. Aufl. Lübeck: Joh. Bohmeier Verlag 1999.

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Probleme mit Gott (400 Kb)


Anmerkungen:

  1. Luhmann, N.: Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? S.241.
  2. Vgl. Luhmann, N.: Die Religion der Gesellschaft. S.53-114.
  3. Luhmann, N.: Die Unterscheidung Gottes. S.252.
  4. Ebd.
  5. Vgl. ebd. S.256.
  6. Ebd. S.253.
  7. Ebd. S.261.
  8. Ebd. S.254.
  9. Ebd.
  10. Ebd. S.255.
  11. Vgl. Spencer-Brown, G.: Laws of Form.
  12. Luhmann, N.: Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? S.242.
  13. Ebd. S.243.
  14. Vgl. ebd. S.245f.
  15. Ebd. S.246.
  16. Vgl. Luhmann, N.: Die Unterscheidung Gottes. S.261.
  17. Vgl. ebd. S.258.
  18. Oder wenigstens nach falsifizierbaren Theorien, was auf das gleiche hinausliefe: Vgl. vor allem Luhmann, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. S.394.
  19. Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?
  20. Vgl. Baecker, D.: Studien zur nächsten Gesellschaft.
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Die Unterstellung der Kommunikation http://www.gesellschaftundkontingenz.de/2010/04/01/die-unterstelltung-der-kommunikation/ Thu, 01 Apr 2010 16:43:30 +0000 http://www.gesellschaftundkontingenz.de/?p=62 Menschen können nicht kommunizieren

Weder Menschen, noch Gehirne, noch nicht einmal Bewusstseine können – ganz im Gegensatz zur gängigen Auffassung – kommunizieren. Einzig und allein Kommunikation kann kommunizieren. Der Grund: Das Bewusstsein ist ein operativ geschlossenes System, das keinerlei direkten Kontakt zu seiner Umwelt etablieren kann. Es gibt in der Umwelt des Bewusstseinssystems keine Anschlüsse für seine Nervenimpulse. Und deshalb liegt eine prinzipielle Trennung vor zwischen der Wahrnehmung und dem Prozessieren von Gedanken durch Bewusstseinssysteme einerseits und der Kommunikation andererseits, die sich in keinem Moment überwinden lässt.

Kommunikation ist höchst unwahrscheinlich

Unstrittig ist, dass Kommunikation dennoch auf Leistungen von Bewusstseinssystemen zurückgreifen muss, um sich selbst in Gang zu halten: nur Bewusstseinssysteme können Kommunikation wahrnehmen und sich durch sie irritieren lassen. Das ist jedoch keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, obwohl es im Normalzustand ständig funktioniert. Denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass nervös vibrierende, quirlig ihre eigenen Operationen fortsetzende Gehirne ihre beschränkten Aufmerksamkeitspotenziale gerade für Kommunikation bereitstellen. Mit anderen Worten: die Voraussetzung, dass Kommunikation überhaupt einen Adressaten findet, ist zumindest fraglich, und damit auch, ob ausreichend Motivation für Kommunikation aktiviert werden kann.1

Und dennoch: es funktioniert

Um zu begründen, weshalb Kommunikation im Allgemeinen dennoch und beinahe ununterbrochen vorkommt, greift Luhmann auf den Begriff der strukturellen Kopplung des Biologen Humberto Maturana zurück:

„Nur wenn ein System in seiner autopoietischen Reproduktion dem Bereich, in dem es operiert, angepaßt ist, kann es sich durch seine eigenen Strukturen determinieren. Und nur wenn es durch seine eigenen Strukturen in einem laufenden structural coupling mit seiner Umwelt in Kontakt steht, kann es die eigenen Operationen fortsetzen.“2

Kommunikation ist faszinierend für das Bewusstsein, und zwar dermaßen, dass es sich von ihr präokkupieren lässt. Man denke nur an störende Gespräche in Kirchen, Konzerthäusern, Bibliotheken – es fällt gemeinhin schwer, stattfindende Kommunikation zu ignorieren. Auf den Grund für diese Faszination geht Luhmann nicht weiter ein; wir spekulieren, dass er sich auf Spekulationen dazu nicht einlassen wollte, weil sie für die Beobachtung von Gesellschaft nicht notwendig sind. Denn ob man entwicklungspsychologisch argumentiert und Sozialisation verantwortlich macht (mit der Geburt ist man sofort von Kommunikation umgeben und wird im Laufe der Entwicklung darauf trainiert, auf sie zu reagieren), oder aber systemtheoretisch (Faszination ergibt sich aus einer Störung des Normalverlaufs der Wahrnehmung, ist also eine Form der Information3), ist letztlich für die Beobachtung, dass Kommunikation ganz offensichtlich die Eigenschaft besitzt, Bewusstsein zu faszinieren, keine vorauszusetzende Entscheidung.

Medium, Form, strukturelle Komplementarität

Ein Beobachter, sei es ein psychisches, sei es ein soziales System, kann Bewusstsein als Freiheit, als möglichen Zustand, als Modalität, oder in der Terminologie von Fritz Heider ausgedrückt: als Medium beobachten.4 Für die Kommunikation ist Bewusstsein Medium, eine Menge von lose gekoppelten Elementen, und sie unterstellt, dass sie ihm ihre rigiden Formen, einprägen kann. Dabei ignoriert sie die Tatsache, dass ein „[…] Bewußtsein denkt, was es denkt – das und nicht anderes.“5 Das Bewusstsein organisiert und produziert seine Wahrnehmungen selbst, selektiert also auch selbstständig Mitteilung und Information.

Und es produziert auch eigene Aussageabsichten, die es dann in der Form von Kommunikation mitteilt und in diesem Sinne wiederum Kommunikation als Medium beobachtet, dem es seine Formen einprägen kann. Auch das Bewusstsein verkennt also, indem es Worte zu Sätzen zusammendenkt, die Eigendeterminiertheit von Kommunikation. Es verwechselt Irritation mit Instruktion. Die Sprache ist insofern eine Errungenschaft, die es ermöglicht, dass strukturdeterminierte Systeme – Bewusstsein und Kommunikation – Medium und Form sein können. Sprache ermöglicht mithin eine Beziehung, die, wie wir sehen, zum großen Teil darin besteht, dass ein System das Systemsein eines anderen Systems ignoriert, um sich zu motivieren, bestimmte Operationen zu vollziehen.

Interpenetration

Aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters werden diese Unterstellungen sichtbar und er hat dann die Möglichkeit, eine andere Beschreibung zu wählen, die mehr Erklärungspotenzial bereitstellt. Luhmann tut dies hinsichtlich der Beziehung zwischen Bewusstsein und Kommunikation mit dem Begriff der Interpenetration.6 Interpenetration beschreibt den Vorgang der gegenseitigen Einflussnahme zweier Systeme auf Grund der Selbstentscheidungen des jeweils anderen Systems. Interpenetration kommt zu Stande durch Irritationen, die im System verarbeitet werden und auf diese Weise zu operativen und strukturellen Änderungen führen. Der Begriff ist abstrakt genug angelegt, um jedwede Beziehung unterschiedlicher autopoietischer Systeme zu bezeichnen: Bewusstsein und Kommunikation, Lehrer und Schüler, Gesellschaft und Individuum usw.7

Kulturformen und gesellschaftliche Ausdifferenzierung

Inwiefern Kommunikation und damit Gesellschaft die Eigenverfasstheit des Bewusstseins, bei der Verwendung unterschiedlicher Kommunikationsmedien konkret in Rechnung stellen muss, inwieweit die Einheit und Komplexität des Bewusstseins zur Funktion der Gesellschaft wird, inwiefern also die Interpenetration der beiden Systeme Wirkung zeigt, ist dann wiederum ausschlaggebend für die Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems.

Denn Interpenetration impliziert, dass sich Bewusstsein und Kommunikation gegenseitig beobachten: Beobachtungen sind jedoch sinnkonstituierende Operationen, also solche, die den unmarked space8 und dementsprechend Kontingenz berücksichtigen können. Damit ist Sinn die Befähigung zur Verneinung, logischen Modalisierung, und Mitrepräsentation anderer Möglichkeiten. Sinn ist die Unterscheidung aktuell/potenziell, „ein in den Operationen aktuell verfügbarer Verweisungsüberschuß, der zur Selektion zwingt […].“9

Mit der Sicherheit, dass sie einen Adressaten findet, und dass sie, auf Grund ihrer Grammatik und Semantik auch verstanden wird, entsteht für die Kommunikation als beobachtetes System also das  Problem der Akzeptanz ihrer Selektionen durch das Bewusstseinssystem. Und um eben dieses Problem zu lösen, koevoluieren bestimmte Einrichtungen parallel zur Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien (Schrift, Buchdruck, elektronische Massenmedien und eben auch, so die These, Internet), die auf diese Weise zur Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems beitragen. Mit anderen Worten ließe sich sagen: gesellschaftliche Evolution findet statt, weil Kommunikation an Bewusstsein gekoppelt ist und dafür sorgen muss, dass sie trotzdem Chancen hat, akzeptiert, also zur Grundlage weiterer Kommunikation zu werden.

Menschen kommunizieren

Schließlich sei noch angemerkt: Systeme können nur an Kommunikation teilnehmen, wenn sie Mitteilung und Information unterscheiden können: „Die Mitteilung selegiert aus unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten, die Informationen selegiert aus unterschiedlichen Sachverhalten, und die Kommunikation faßt beides in einem Ereignis zusammen[…].“10 Daraus folgt – als Kondensat der Kommunikationspraxis – auch: die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von Mitteilendem und der Information, über die er kommuniziert. Luhmann erklärt auf diese Weise die alltägliche Beobachtung, dass Kommunikationen zugerechnet, also einzelne Menschen und ihre Intentionen für bestimmte Kommunikationen verantwortlich gemacht werden:

„Worte wie Mensch, Seele, Person, Subjekt, Individuum sind nichts anderes als das, was sie in der Kommunikation bewirken. Sie sind kognitive Operatoren insofern, als sie die Berechnung weiterer Kommunikationen ermöglichen.“11

Quellen

Heider, Fritz: Ding und Medium. Hrsg. von Dirk Baecker. Berlin: Kadmos 2005.

Luhmann, Niklas: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beiteiligt? In: Aufsätze und Reden. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart: Reclam 2001. S.​111-136.

Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Aufsätze und Reden. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart: Reclam 2001. S. 76-94.

Spencer-Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. 2. Aufl. Lübeck: Joh. Bohmeier Verlag 1999.

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Die Unterstellung der Kommunikation (100 Kb)


Anmerkungen:

  1. Vgl. Luhmann, N.: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation.
  2. Luhmann, N.: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?  S.115.
  3. Im Normalverlauf schließt das Bewusstsein wahrnehmend Gedanken an Gedanken an. Sprache als Kommunikationstechnologie schränkt ein, welche Laute (oder schriftlichen Zeichen) benutzt werden können, damit unzweifelhaft klar ist, dass es sich um Kommunikation handelt. Durch die Verwendung von Sprache ist das Bewusstseinssystem also mit zusätzlicher Komplexität konfrontiert: es wird angehalten, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die außersprachlich nicht in seiner Umwelt vorkommt. Während laute U-Bahngeräusche deshalb ohne Weiteres als Regelmäßigkeit ausgeblendet werden können, ist gerade Sprache so angelegt, Systeme mit immer neuer Information zu versorgen, sofern sie nicht in eine monotone Wiederholung identischer Sätze oder Wörter verfällt.
  4. Vgl. Heider, F.: Ding und Medium.
  5. Luhmann, N.: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?  S.118
  6. Und betont: „ein sprachlich nicht sehr glücklicher und sicher klärungsbedürftiger Begriff“ Luhmann, N.: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?  S. 130.
  7. Kommunikative Systeme machen etwa die Erfahrung der Interpenetration, indem sie die Eigendynamik des physischen Systems Körper beobachten  und in ihren Erwartungsstrukturen  in Rechnung stellen.
  8. Im Sinne von Spencer-Brown, G.: Laws of Form.
  9. Luhmann, N.: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?  S.126.
  10. Ebd. S.128.
  11. Ebd. S.132.
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